Der Lilienring
mit Rum und Arrak angereicherten Getränken. Eine Weile hatte Marie-Anna seine ausgelassene Stimmung genossen. Er tanzte mit ihr hingebungsvoll die fröhlichsten Tanzfiguren und küsste sie vergnügt auf die geröteten Wangen. Seine feinen, braunen Haare hatten sich aus dem Band gelöst, das sie im Nacken zusammengehalten hatte, und fielen ihm nun in Locken über die Schulter. Dann aber packte ihn, wie befürchtet, der Übermut. Erst in einer kleinen Gruppe von Theaterfreunden. Aus dem Stegreif formte er Reime, witzige kleine Anspielungen auf die anwesenden Herrschaften, die er unter den Masken erkannte. Jubelndes Gelächter machte ihm Mut, lauter zu sprechen. Leider machten ihm der Punsch und der johlende Beifall ebenfalls Mut, schärfere Formulierungen zu improvisieren, und die Betroffenen begannen, auf ihn aufmerksam zu werden. Marie-Annas Zupfen an seinem Ärmel ignorierte er, schüttelte sie ab und fing schließlich mit blitzenden Augen an, den Imperator selbst durch den geschmuggelten Kakao zu ziehen. Die sprachliche Ableitung von L’Empéreur über den Empörkömmling zum Emporkömmling kam nicht gut an bei den napoleontreuen Franzosen, die ebenfalls den Punsch genossen hatten. Sie versuchten, dem Spötter Einhalt zu gebieten, und der Tumult begann.
Er endete erst mit dem Einmarsch der Gendarmen.
Marie-Anna tauchte ihren Kleidersaum in das wenige Wasser, das noch in der Schüssel war, und versuchte sich das Gesicht zu waschen. Das weiße, mit kleinen Rosen bedruckte Musselinkleid war staubig, befleckt und an manchen Stellen zerrissen. Die Schlägerei im Gürzenich, die rauen Hände der Gendarmen, die sie verhaftet und in das Gefängnis gezerrt hatten, waren dem zarten Stoff nicht gut bekommen. Wenigstens hatte sie den Umhang
noch retten können, sonst wäre sie in den zwei Tagen, die sie zusammen mit drei anderen Frauen in der Zelle verbracht hatte, beinahe erfroren. So hatten sie, eng aneinander gedrängt, mit den schmutzigen Pferdedecken und diesem Umhang versucht, sich zu wärmen. Eine der Frauen war eine Tänzerin aus dem Theater, in dem Marie-Anna als Schneiderin arbeitete. Die beiden anderen kannte sie nicht. Es waren Prostituierte, die wegen Diebstahls aufgegriffen worden waren. Doch das gemeinsame Schicksal wirkte verbindend. Zumindest so weit, dass sie sich gegenseitig Wärme spendeten.
»Vergiss den Sous-Préfet, Marie-Anna. Für den musst du dich nicht aufputzen«, kommentierte eine der Dirnen ihre Reinigungsbemühungen. »Das ist ein ganz kalter Hund. Frauen kommen bei ihm sowieso nicht gut an.«
»Schmutzige vermutlich noch weniger als saubere!«, war Marie-Annas trockener Kommentar.
Die Nachricht, dass der Sous-Préfet selbst die Gefangene de Kerjean verhören wollte, hatte sie vor einer halben Stunde erfahren. Marie-Anna hatte es mit einer gewissen Erleichterung vernommen. Hoffentlich würde sie etwas über Jules’ Verbleib erfahren. Dass er diesmal nicht mit einer Geldstrafe davonkommen würde, konnte sie sich schon denken. Sie hoffte, wenn auch ohne großen Optimismus, möglicherweise um Verständnis bitten zu können. Aber wahrscheinlich würde der Sous-préfet sie dazu nicht hören wollen. Sie nahm es mit Gleichmut hin. Jules war zwar ein guter Freund, großzügig, wenn er über die Mittel verfügte, ein unterhaltsamer Gefährte, ein charmanter Begleiter und ein eher egoistischer Geliebter. Sie mochte ihn, aber sie liebte ihn nicht. Es war nützlich für eine kleine Garderobenschneiderin, einen Gönner am Theater zu haben. Es bewahrte sie vor den Zudringlichkeiten anderer.
Der Gefangenenwärter kam und führte sie mit festem Griff aus der Zelle in der »Violine«, dem Gefängnis am Rathaus, zum Domhof, wo sich die Sous-Préfecture befand.
Marie-Anna trat mit aufrechter Haltung in das Bureau des Sous-Préfet ein. Der Mann hinter dem wuchtigen Schreibtisch sah auf. Er war hager, seine dunklen Haare sorgfältig frisiert, die Wangen glatt rasiert. Über einer scharfen Nase blickten sie zwei Augen kalt und abschätzend an. Seine Lippen bildeten eine schmale Linie über dem vorspringenden Kinn. Es war kein verbindliches Gesicht, in das sie blickte.
»Demoiselle Marie-Anna de Kerjean!«
»Die bin ich, Monsieur le Sous-Préfet.«
»Eine steile Karriere haben Sie angetreten, seit ich Sie das letzte Mal getroffen habe, Mademoiselle.«
»Wie Sie meinen, Monsieur le Sous-Préfet.«
»Setzen Sie sich, Mademoiselle.«
Marie-Anna nahm auf dem Holzstuhl vor seinem Schreibtisch Platz. Sie
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