Der Lilienring
Zeit aus dem Verkehr zu ziehen. Unser Zuchthaus ist nicht besonders gemütlich, wie Sie feststellen werden.«
Marie-Anna presste ihre Hände so fest zusammen, dass die Knöchel weiß wurden.
»Sie verstehen also, nicht wahr?«, fragte Faucon, der das starre Gesicht beobachtete.
»Ich verstehe vollkommen.«
»Ich könnte die Strafe aussetzen, wenn Sie eine Arbeit für mich übernehmen.«
»Für Sie?«
»Ja, allerdings. Und es bedeutet, dass Sie wieder in den Dienst der verknöcherten und scheinheiligen Bourgeoisie treten müssen.«
»Und was dort tun?«
Der Sous-Préfet stand auf und öffnete eine Schublade. Mit einem Ring in der Hand kam er zu ihr zurück und legte ihr das Schmuckstück in die Hand. Marie-Anna zuckte kurz, betrachtete es dann aber eingehend. Der Bernstein schimmerte golden im Licht, das durch das Fenster fiel.
»Vor sechs Jahren ungefähr erwarb ein Herr Valerian Raabe diesen Ring. Ich war zufällig dabei, als das Stiftsvermögen von Maria im Kapitol versteigert wurde. Er hat mich schon damals fasziniert, und ich hätte ihn
gerne selbst erworben. Doch Raabe verfügte über die besseren Methoden.« Faucon erlaubte sich ein kleines Lächeln. »Der Mann ist ein professioneller Sammler.«
»Nun, und jetzt haben Sie ihn in Ihrem Besitz.«
»Nein, er ist als Beweisstück im Besitz des Staates. Dieser Ring tauchte nämlich vor einigen Monaten auf, als wir einen Drucker festnahmen, der Flugblätter aufrührerischen Inhaltes herstellte. Er hat ihn als Bezahlung angenommen, gab er an. Doch seinen Auftraggeber haben wir nicht ermitteln können. Der Drucker entzog sich weiterer Befragung durch Flucht.«
»Monsieur Raabe?«
Mit einer sehr französischen Bewegung hob Faucon die Schultern.
»Finden Sie es für mich heraus, Marie-Anna. In dem Haushalt der Raabes leben noch einige andere Personen, die unter Umständen sogar mehr Interesse daran haben, uns zu schaden als der Kolonialwarenhändler Raabe. Er macht keine schlechten Geschäfte.«
»Mit wem – das ist etwas, was Sie natürlich auch interessieren würde, nicht wahr?«
»Wenn Sie auf interessante Hinweise stoßen, sollten Sie nicht zögern, mich zu informieren.«
»Verkehren Sie gesellschaftlich mit Monsieur Raabe?«
»Gelegentlich.«
Marie-Anna drehte den Ring in den Fingern.
»Monsieur Raabe ist verheiratet?«
»Ja.«
»Es scheint, dass Männer leicht auf gewisse Ideen kommen, wenn eine junge Frau in ihren Haushalt zieht. Wie weit geht mein Auftrag?«
»Wenn es notwendig ist, ihn dazu zu ermuntern, Ihnen auf dem Kopfkissen vertrauliche Geständnisse zu machen, die unsere Ermittlungen betreffen, dann tun Sie es. So unerfahren sind Sie ja nicht mehr, Marie-Anna.«
Sie steckte den Ring an den Finger und betrachtete das tiefe, goldene Leuchten des Steines, dann hob sie den Blick. Faucon sah sie ebenfalls an, und plötzlich schien die Luft zwischen ihnen zu vibrieren. Er nahm langsam ihre ringgeschmückte Hand und zog sie an seine Lippen.
»Ich werde tun, was Sie wollen, Monsieur«, flüsterte Marie-Anna heiser.
»Nein, Mademoiselle, das nicht«, antwortete er ebenso leise.
Sie lächelte ein wenig erleichtert, zog den Ring vom Finger und reichte ihn Faucon zurück.
»Gut, ich mache Ihnen ein Empfehlungsschreiben für Valerian Raabe fertig. Er hat eine kleine Tochter, für die er, wie ich hörte, eine Französischlehrerin sucht. Dass Sie auch fließend Englisch sprechen, dürfte Ihnen gute Chancen einräumen. Ihre weniger glorreiche Vergangenheit werden Sie aber bitte verschweigen.«
»Solange er mich nicht befragt.«
»Dann werden Sie etwas Passendes erfinden müssen. Und nehmen Sie dies hier, um sich ein anständiges, hochgeschlossenes Kleid zu kaufen, wie es in den bürgerlichen Kreisen für eine Gouvernante angemessen ist.«
»Sie fürchten, meine modischen Gewänder bringen mich bei meinem Arbeitgeber in Bedrängnis?«
»Behalten Sie sie auf jeden Fall!«
Er stand auf, und Marie-Anna erhob sich ebenfalls. Mit einem Lächeln ergriff sie seine ausgestreckte Hand.
»Was wird mit Jules?«
»Ihrem Beschützer? Nun, man wird ihn wohl der Stadt verweisen.«
Sie senkte ihren Kopf. Es war eine milde Strafe.
»Nutzen Sie Ihre Chance, Mademoiselle de Kerjean.«
»Danke, Monsieur Faucon. Das werde ich tun.«
»Cilly, das war super.«
»Na ja, die Unterlagen waren recht ergiebig. Die Empfehlungsschreiben haben wir, Zeugnisse auch. Über den Ball im Gürzenich und die anschließende Keilerei mit Verhaftungen gibt es einen
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