Der Lilienring
sah, dass er einen Folianten aufgeschlagen hatte.
»Diese Räumlichkeiten sind Ihnen nicht unbekannt, wie ich sehe. Diebstahl, Aufwiegelei und jetzt noch eine Schlägerei. Nur von öffentlicher Prostitution scheinen Sie sich bislang fern gehalten zu haben.«
»Wie Sie sagen, Monsieur le Sous-Préfet.«
»Welcher Art ist Ihre Verbindung zu Jules Coloman?«
»Er ist, wie man so sagt, mein Beschützer.«
»Bewundernswert, wie er diese Rolle ausfüllt.«
»Ganz recht, Monsieur le Sous-Préfet.«
»Marie-Anna, Sie sind verstockt.«
»Monsieur, was erwarten Sie von mir? Soll ich in tränenreiche Reue ausbrechen? Das kann ich nicht. Ich habe nur versucht zu überleben.«
»Das wäre Ihnen bei Fabien DuPont erheblich besser
gelungen als in der Gosse, in der Sie beschlossen haben, jetzt Ihren Aufenthalt zu nehmen.«
»Ich habe nichts dergleichen beschlossen.«
»Nein? Warum haben Sie dann den Haushalt des Munizipalbeamten verlassen, in dem ich Sie als gebildete, gut erzogene und wohl gelittene Gouvernante kennen gelernt habe?«
»Das ist sechs Jahre her.«
»Und in der Zeit ist viel Wasser den Rhein hinabgelaufen, wollen Sie andeuten.«
»Ganz richtig, Monsieur le Sous-Préfet.«
Er stand auf und ging um den Schreibtisch herum. Als er vor ihr stand, musste sie zu ihm aufschauen.
»Vielleicht würde es helfen, wenn Sie mich nicht ständig mit meinem Titel anredeten, Marie-Anna?«
Einen Moment lang hielt sie seinem Blick stand, dann nickte sie kurz und meinte: »Vielleicht, Monsieur Faucon.«
Er setzte sich auf den Stuhl neben sie.
»Ich habe Ihren Weg in den Akten verfolgen können. Sie sind jetzt am Theater gelandet.«
»Ich fand dort Arbeit als Garderobenschneiderin. Es gefällt mir dort. Die Theaterleute sind nicht so verknöchert und scheinheilig wie die Bourgeoisie.«
»Eine interessante Einstellung für eine junge Frau aus adeligem Haus.«
Diesmal konnte es Marie-Anna nicht verhindern, dass sie verblüfft dreinschaute.
»Als ich Sie damals bei DuPont kennen lernte, kam mir der Name Kerjean bekannt vor, aber ich konnte ihn nicht einordnen. Also informierte ich mich. Sie haben 1795 Ihre Heimat verlassen und sind mit Ihrer Nanny nach England gezogen. Sir Garret hat Sie fünf Jahre später seinem französischen Bekannten DuPont empfohlen, der eine Englisch sprechende Gouvernante für seine
Kinder suchte. Sie kamen zu ihm nach Köln, da eine Rückkehr in das Chateau Kerjean nicht möglich war. Unsere Truppen hatten dort Quartier genommen. Und Ihr Vater war ein gesuchter Rebell.«
»Sie wissen sehr viel von mir.«
»Sieht so aus, nicht wahr? Ich habe sogar den starken Verdacht, dass Sie von Ihrem Vater die rebellische Natur geerbt haben.« Er zog eine Karikatur aus dem Folianten, die Kaiser Napoleon ziemlich unrühmlich darstellte. »Dieses Machwerk stammt aus Ihrer spitzen Feder, habe ich mir berichten lassen.«
»Ein Spaß, Monsieur Faucon.«
»Eine Majestätsbeleidigung.«
»Wie Sie sagen, Monsieur le Sous-Préfet.«
»Man hat es Ihnen als Aufwiegelei zur Last gelegt. Wie ich sehe, haben Sie eine Strafe dafür gezahlt.«
»Wollen Sie es mir noch einmal zur Last legen?«
»Ich könnte es, auf Grund Ihres neuerlichen Versto ßes. Sie sind ein bretonischer Flüchtling, Tochter eines Rebellen, der sich an dem Aufstand unter General Cadual beteiligt hat, vor drei Jahren gefasst wurde und nun in Paris im Kerker sitzt. Sie haben...«
»Mein Vater lebt?«
»Ja, Brior le Noir lebt. Cadual hingegen wurde 1804 in Paris hingerichtet. Ich bin nicht informiert darüber, was die Behörden mit Ihrem Vater vorhaben. Wahrscheinlich wird er deportiert.«
»Meine Mutter? Wissen Sie auch etwas über meine Mutter, Monsieur Faucon?«
Das strenge Gesicht des Sous-Préfet wurde ein wenig milder, seine Augen drückten Mitgefühl aus.
»Ihre Mutter starb vor vier Jahren, Marie-Anna. Ihr kleiner Bruder Yorick lebt bei der Familie Ihres ehemaligen Verwalters.«
Marie-Anna hielt den Kopf gesenkt. So lange hatte sie
nichts von ihrer Familie gehört. Dass ihre Mutter gestorben war, hatte sie schon oft vermutet. Es aber bestätigt zu bekommen, war noch etwas anderes.
Der Sous-Préfet Romain Faucon reichte ihr ein Glas Wein.
»Danke«, schnupfte sie und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab. »Sie sind sehr gütig.«
»Ich bin nicht gütig, Marie-Anna. Sie haben sich eine Reihe zunehmend schwer wiegender Straftaten zuschulden kommen lassen. Und ich hätte jede Handhabe, Sie für eine verhältnismäßig lange
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