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Der Lilienring

Titel: Der Lilienring Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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mit dem Buch an das geöffnete Fenster. Es war warm geworden, und die Sonne schien hell ins Zimmer. Vögel zwitscherten und flöteten in den Bäumen, die die Straße säumten. Diese heitere Atmosphäre war genau richtig, um in den Gedichten zu schmökern, die Julian viel bedeutet hatten. So konnte ich es ohne Trauer tun. Einige hatte er besonders geliebt, in ihnen seine eigenen Melodien gehört. Es standen kleine Randbemerkungen dazu drin, Kritzel in der ihm eigenen Kurzschrift. Dann aber schlug ich eine Seite auf und fand ein getrocknetes, vierblättriges Kleeblatt darin. Ein Satz aus den Briefen der Unbekannten fiel mir ein: »Du hast mir etwas über Glückssymbole geschrieben, und so war ich wohl heute besonders aufmerksam. Zufällig habe ich beim Blumengießen auf unserer Wiese ein Glückskleeblatt gefunden. Nimm es, mein Liebster, es mag deine dunklen Gedanken vertreiben.« Ob es dieses Kleeblatt war? Mein Blick fiel auf das Gedicht, und plötzlich hatte ich Gewissheit. Die Worte, die dort standen, hatte ich schon einmal gehört. Ich stand auf, nahm die Kassette zur Hand, legte sie in den Rekorder und spulte sie zum Anfang zurück. Und dann lauschte ich Julians Stimme, der das »Lied« von Christina Rossetti vortrug, einer englischen Dichterin des neunzehnten Jahrhunderts.
    Wenn ich einst tot bin, Liebster,
Klag nicht mit trübem Sinn.
Nicht Rosen noch Zypressen
Pflanz mir zu Häupten hin.
Das grüne Gras wird tränken
Mit Tau mich ganz gewiss:
Und wenn du willst, gedenke,
Und wenn du willst, vergiss.

Ich werd nicht sehn die Schatten,
Spür nicht des Regens Fall
Und hör nicht leidvoll klagen
Das Lied der Nachtigall.
Und träumend fort im Zwielicht
Nie wächst noch schwindet es:
Vielleicht, dass ich gedenke,
Vielleicht, dass ich vergess.
    »Haply I may remember, and haply may forget«, flüsterte ich die englischen Verse des Originaltextes. Das »Lied«! Er hatte es für die Unbekannte vertont, und ich war mir sicher, es war das, was er ihr zum Trost geschickt hatte, als ihr Mann gestorben war. Nun tröstete er mich damit. Nicht nur in meiner Trauer um ihn, sondern auch in meiner Sehnsucht nach Valerius. Konnte das die Form der Freiheit sein, die man sich gegenseitig einräumen musste? »And if thou wilt, remember, and if thou wilt, forget.«
    Noch viele Male hörte ich mir die zärtlichen Klänge an, die Melodie, die sich wie ein warmer Mantel um mich legte. Manchmal summte ich es leise mit, manchmal lauschte ich nur. Und wurde sehr ruhig. Ruhiger als seit Monaten, gelassener und – irgendwie hoffnungsvoller.
    Mit dem Lilienring am Finger schlief ich in dieser Nacht. Nicht traumlos, nein, ganz gewiss nicht. Doch meine Träume hatten nichts mit Marie-Anna zu tun. Sie kreisten um Valerius, den ich nicht vergessen wollte.

Tagebuch 1
    Mors Porta Vitae
    Der Tod ist die Pforte des Lebens

8. Kapitel
    Ein Vorstellungsgespräch
    »26. Februar 1810. Heute bin ich im Haushalt der Familie Raabe eingetroffen. Das Mädchen Graciella hat mich herzlich begrüßt, und auch die Dame des Hauses nahm sich meiner freundlich an. Diese Cousine Rosemarie hingegen...«
    So begann das erste Tagebuch. Es brachte eine packende Schilderung, wie Marie-Anna ihre neue Stelle angetreten hatte, und eine Schilderung der Personen, die sie dort antraf. Es warf zusätzlich ein bezeichnendes Bild auf die Schreiberin, wie sie die Situation und die Charaktere beurteilte. Ich hatte das Büchlein durchgelesen und war bereit, Rose und Cilly den nächsten Abschnitt aus ihrem Leben zu erzählen.
    Wie schon bei den beiden vorhergehenden Geschichten hatten wir uns den Freitagnachmittag und das Wochenende dafür reserviert. Wir saßen auf Roses kleinem Dachbalkon in der Sonne, sie stellte eine Kanne Eistee auf den Tisch, und Cilly knackte erwartungsvoll mit den Fingerknöcheln, um die Tipparbeit aufzunehmen.
     
    Marie-Anna empfand Genugtuung darüber, dass Faucon ihr Geld für ein »anständiges« Kleid gegeben hatte. Schmunzelnd zählte sie die Scheine; Faucon musste eine anspruchsvolle Geliebte haben, wenn das seine Vorstellung davon war, was ein anständiges Kleid kostete. Nun, verheiratet war er ja nicht. Mit dem Geld war sie in der Lage, sich mindestens drei einfache, hochgeschlossene Kleider selbst zu nähen, den Stoff dazu bekam sie über
verschiedene Beziehungen billig. Eine Woche lang verbrachte sie in ihrem kargen Kämmerchen damit, zuzuschneiden und zu sticheln. Sie war zum Glück nie in Jules’ Wohnung eingezogen, einen Rest Selbständigkeit

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