Der Lilienring
hatte sie sich erhalten wollen. Dann, am Donnerstag der nächsten Woche, sprach sie, in einem schmucklosen grauen Baumwollkleid mit schwarzem, kurzem Jäckchen darüber, noch einmal im Bureau des Sous-Préfet vor, um sich das Empfehlungsschreiben abzuholen. Faucon empfing sie und nickte zustimmend zu ihrer Aufmachung.
»Hier ist das Schreiben, Mademoiselle de Kerjean. Machen Sie guten Gebrauch davon.«
»Das werde ich tun.«
»Liefern Sie es in Raabes Kontor ab, dort erhält er es ohne Umwege. Und zeigen Sie Ihr Erstaunen nicht allzu deutlich, wenn Sie Valerian Raabe begegnen.«
»Gibt es etwas, das mich in Erstaunen versetzen kann?«
»Das gibt es. Seine Stimme, Mademoiselle, wird Sie möglicherweise irritieren.«
»Danke für den Hinweis, Monsieur le Sous-Préfet.«
Sie brachte das erhaltene Papier zusammen mit einem Bewerbungsschreiben an die Adresse des Kommerzialrates Valerian Raabe und erhielt für die folgende Woche durch einen Boten des Handelshauses einen Termin, um bei ihm in seinem Kontor vorzusprechen.
Marie-Anna war ein wenig nervös, als sie sich bei dem streng gekleideten Sekretär anmeldete. Er zeigte keinerlei Freundlichkeit, sondern wies sie kühl an, sich zu gedulden, bis der Herr Kommerzialrat Zeit für sie habe.
Er ließ sie jedoch nicht lange warten. Pünktlich um drei, wie es vereinbart war, wurde sie in sein Arbeitszimmer geführt. Für einen so bedeutenden Mann schien
es mehr als nüchtern eingerichtet, er selbst war ebenfalls in einen schlichten Frack und Pantalons gekleidet. Was aber überraschend wirkte, war sein lockiger, bis auf die Brust reichender schwarzer Bart, den bereits einige graue Strähnen durchzogen. Auch sein Haupthaar, das er unmodisch lang bis in den Nacken trug, schimmerte silbrig an den Schläfen.
»Mademoiselle Marie-Anna de Kerjean?«, fragte er mit einer heiseren, tonlosen Stimme, und Marie-Anna dankte Faucon im Stillen für die Warnung.
»Ja, Herr Kommerzialrat.«
»Nehmen Sie Platz.«
Sie setzte sich vor seinen Schreibtisch und faltete sittsam die Hände im Schoß.
»Sie empfehlen sich als Lehrerin für die französische und englische Sprache.«
Sie nickte zustimmend.
»Das Französische will ich Ihnen gerne abnehmen, aber wie ist es um das Englische bestellt?«, fragte er in genau dieser Sprache. Marie-Anna antwortete ihm in flüssigem Englisch: »Ich bin von einer englischen Kinderfrau erzogen worden und habe fünf Jahre lang in einem Londoner Haushalt gelebt und gearbeitet. Ich denke, sowohl meine mündlichen als auch schriftlichen Kenntnisse dieser Sprache sind ausreichend.«
»Das will mir so scheinen. Gut. Ich habe eine dreizehnjährige Tochter, Graciella, der ich auf Grund der zerrütteten Lage unseres Bildungswesens leider nicht die Ausbildung verschaffen kann, die ich für wünschenswert halte. Weiterhin leben in meinem Haushalt auch die Kinder der Schwägerin meiner Gattin. Frau Berlinde von Spangenberg ist Offizierswitwe und fungiert als Gesellschafterin meiner Gattin. Yannick ist sieben, Guenevere ist acht. Auch sie müssen unterrichtet werden. Fühlen Sie sich imstande, drei Kinder zu betreuen?«
»Ich denke schon. Sir Garret hatte fünf Söhne und Töchter. Es gab keine Probleme.«
»Professor Dr. Klein kümmert sich um die Ausbildung in Naturkunde, Geschichte, Geografie und, soweit es ihm gelingt, auch um die Mathematik. Seine Tochter Rosemarie gibt ihnen Latein- und Zeichenunterricht. Sie werden also nicht mehr als zwei, drei Stunden am Tag zu unterrichten haben. Darf ich fragen, welche weiteren Fähigkeiten Sie über das Beherrschen von zwei Fremdsprachen hinaus aufzuweisen haben?«
»Ich spreche und schreibe Deutsch einigermaßen verständlich, Herr Kommerzialrat.«
»Ich sagte ja, zwei Fremdsprachen.«
Marie-Anna biss sich leicht auf die Unterlippe. Dann antwortete sie gelassen: »Ich bin mit Nadelarbeiten nicht ungeschickt, kann einigermaßen genau mit Centimes rechnen, weiß einfache Gerichte zu kochen und bin in der Lage, sowohl akkurate Zeichnungen von vorgegebenen Objekten als auch farbige Aquarelle herzustellen.«
»Das trifft sich ausgezeichnet. Sie werden verstehen, dass ich für Unterkunft, Verpflegung und Lohn durchaus mehr von Ihnen verlangen muss als einige Stunden Konversation mit drei Kindern. Sie werden meiner Nichte Rosemarie dabei zur Hand gehen, den Katalog meiner Sammlung anzulegen. Das ist gelegentlich eine staubige, jedoch keine ehrenrührige Arbeit.«
»Was wird dabei von mir verlangt?«
»Sie
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