Der Lilienring
legen Zeichnungen von den Stücken an und schreiben in lesbarer Schrift das dazu auf, was als wissenswert betrachtet wird. Rosemarie wird es Ihnen erklären. Sind Sie einverstanden?«
»Ja, Herr Kommerzialrat. Darf ich fragen, was die Sammlung beinhaltet?«
»Ich interessiere mich vor allem für römische Antiken,
aber fast genauso für mittelalterlichen Schmuck und Bücher. Ich sammle übrigens nicht aus Gründen der persönlichen Bereicherung, wenn Sie das befürchten, sondern versuche, gewisse Kulturschätze zu retten, die derzeit leicht in falsche Hände fallen oder der Vernichtung preisgegeben sind. Wie es auch Professor Wallraf tut.«
»Oder der Baron Hüpsch?«, meinte Marie-Anna mit leisem Spott, eingedenk dessen, dass der originelle Kauz vor wenigen Jahren seine umfangreiche Sammlung dem Landgrafen von Hessen-Darmstadt vermacht hatte, da Köln es abgelehnt hatte, sie zu übernehmen
»Nun, wie der gerade nicht. Doch sollte wider Erwarten die Stadt Köln meine Sammlung ablehnen, habe ich vor, sie meiner Familie zu hinterlassen.«
Marie-Anna erlaubte sich ein kleines Lächeln.
»Nun, Sie werden in meinem Hause neben der Hausdame Mathilda das übliche Personal antreffen. Sie werden jedoch mit der Familie speisen. Aber ich mache Sie darauf aufmerksam, dass in meinem Haushalt strikt auf Maßhaltung geachtet wird und dass sich jeder diesem Prinzip unterzuordnen hat. Ich dulde weder aufwändige Kleidung noch üppiges Essen und maßloses Trinken. Vor allem nicht in der Fastenzeit!«
Marie-Anna stand mit einer abrupten Bewegung auf, nahm ihr Täschchen und sah den Kommerzialrat kühl an.
»Ich werde die Stelle nicht antreten. Hungern fällt mir leichter ohne Moralpredigten. Guten Tag, Monsieur!«
Sie wollte zur Tür gehen, als sie erfahren musste, dass die heisere, tonlose Stimme Valerian Raabes von durchdringender Schärfe sein konnte.
»Setzen Sie sich, Mademoiselle de Kerjean!«
Sie drehte sich zögernd um.
»Nehmen Sie Platz, und hören Sie mir zu!«
Dem befehlenden Ton wagte sie nicht, sich zu widersetzen, und ließ sich auf der Kante des Stuhls nieder.
»Ich sprach von Maßhalten, junge Frau. Ich sprach nicht von Hungern. In meinem Haus geht niemand – jemals – hungrig zu Bett!«
»Nein?«
»Nein, Mademoiselle. Näschereien werden Sie nicht ohne Anlass erhalten, aber gesundes, nahrhaftes Essen steht jedem jederzeit zur Verfügung.«
Marie-Anna wusste, dass ihr die Röte in die Wangen gestiegen war. Mit ihrer heftigen Reaktion hatte sie mehr von ihrer Vergangenheit verraten, als sie wollte. Hunger war darin keine ungewöhnliche Erfahrung.
»Zudem erhalten Sie einen Lohn, der großzügig genug bemessen ist, um Bonbons oder ein paar Pralinés kaufen zu können, wenn die Naschsucht in Ihnen übermächtig wird.«
Er nannte ihr den Betrag, den sie als monatliches Entgelt erhalten sollte, und mit einem kaum hörbaren Aufatmen entspannte Marie-Anna ihre verkrampften Finger.
»Das ist ein ausreichender Lohn. Danke, Herr Kommerzialrat. Wann soll ich in Ihr Haus kommen?«
»Wann sind Sie zum Einzug bereit?«
»Ich habe nicht viel zu packen, Monsieur. Jederzeit, wenn’s beliebt.«
»Dann schicke ich Ihnen morgen einen Dienstmann mit einem Wagen. Diese Adresse ist auch die Ihrer derzeitigen Wohnung?«
Es blieb Marie-Anna nichts anderes zu tun, als zu nicken. Der Kattenbug war nicht gerade die erste Wohngegend in Köln.
Die Sternengasse, jetzt »Rue des Etoiles« genannt, war es schon.
Als der Dienstmann der Raabes am nächsten Tag vor der Tür stand, gab Marie-Anna ihm ihre zwei Bündel und eine Truhe mit Kleidern und anderen Habseligkeiten mit, trug ihm aber auf, er solle schon vorfahren und ausrichten, sie habe noch Besorgungen zu machen und würde später am Nachmittag eintreffen.
Besorgungen hingegen hatte sie nicht zu erledigen, sie wollte einfach nur den Zeitpunkt hinauszögern, der sie in ihr neues Leben führte. Darum machte sie sich zu Fuß auf den Weg, weg von dem kleinen, schiefen Fachwerkhäuschen, unter dessen Dach sie ihre Kammer hatte. Ihre erste Station war das Theatergebäude in der Schmierstraße. Sie hielt kurz vor dem Haupteingang, den sie selbst nie benutzt hatte, inne, entschied sich aber dagegen, einzutreten, und wandte sich Richtung Domhof. Es war eine trostlose Gegend – der Platz von Unkraut bewachsen, von Kloaken durchzogen. Vor dem Dom selbst, einem heruntergekommenen Gebäude, in dessen Säulen, Pfeilern, Spitzbögen und Fialen die Vegetation Fuß gefasst hatte,
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