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Der Lilienring

Titel: Der Lilienring Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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der Nacht nicht ganz Herr seiner Sinne gewesen war. Er verhielt sich weiterhin kühl und distanziert, verließ das Haus alsbald und kam erst spät am Abend zurück. Auch Marie-Anna verhielt sich wie zuvor. Die Großeltern Raabe reisten am nächsten Vormittag ab, und es kehrte der Alltag ins Haus ein. Der Unterricht wurde erneut aufgenommen, in den Nachmittagsstunden
wollten Rosemarie und Marie-Anna sich wieder der Sammlung widmen. Nach dem Essen nahm Marie-Anna wie üblich die Zeitung mit in das Arbeitszimmer, um sich eine halbe Stunde über die neuesten Nachrichten zu informieren. Rosemarie las in der Zwischenzeit in dem Werk, das Marie-Anna ihr geschenkt hatte.
    Als sie zu den Lokalnachrichten kam, stockte ihr der Atem. Den Bericht über den Brand des Wachhauses kurz vor Weihnachten hatte sie bereits mit einem unguten Gefühl zur Kenntnis genommen. Jetzt war es den Ordnungskräften gelungen, die Frau dingfest zu machen, die für das Ablenkungsmanöver verantwortlich war. Das Schmuckstück, das bei ihr gefunden wurde, war in allen Details abgebildet.
    Marie-Anna kannte es.
    In dem Katalog, den sie vor zwei Monaten durchgesehen hatte, war diese Kamee ebenso sorgfältig abgebildet wie jetzt in der Zeitung. Rosemarie hatte die Zeichnung vor ungefähr einem Jahr angefertigt. Wieder war also ein Stück aus der Raabeschen Sammlung auf den Markt gekommen, und wieder war es in Verbindung mit einem Sabotageakt aufgetaucht. Sie würde es Faucon melden müssen. Schon überlegte sie, wie sie es anstellen sollte, ihn noch diese Woche zu sprechen, als sich Schritte dem Gang näherten. Valerian Raabe öffnete energisch die Tür und befahl: »Rosemarie, komm sofort in die Bibliothek!«
    Rosemarie klappte mit rosigen Wangen das Buch zu und schob es unter einen Bogen Papier.
    »Was versteckst du da?«
    Er war mit seinem Schritt bei ihr und zog den Band hervor.
    »Das ist ja wohl nicht die richtige Lektüre für eine sittsame junge Frau!«, herrschte er sie an. »Woher hast du das?«

    Rosemarie geriet ins Stammeln, und Marie-Anna stand auf.
    »Sie könnte es aus Ihren Regalen genommen haben, Herr Kommerzialrat. In der Bibliothek finden sich Schriften weit freizügigeren Charakters. Nichtsdestotrotz – dieses klassische Werk habe ich ihr geschenkt!«
    »Was nicht für Ihren Geschmack spricht, Mademoiselle de Kerjean.«
    »Wohl aber für meine Bildung, Herr Kommerzialrat!«
    »Wir unterhalten uns später darüber. Rosemarie!«
    Mit einer herrischen Handbewegung wies er seine Nichte aus dem Zimmer.
    Marie-Anna faltete die Zeitung zusammen und ordnete ihre Arbeitsutensilien, um mit dem Katalogisieren einer Sammlung kleiner Reliquiare zu beginnen. Doch konzentrieren konnte sie sich nicht. Von nebenan drang Stimmengemurmel zu ihr, Valerian Raabes tonlose Stimme war nicht zu verstehen, Rosemaries war leise und plötzlich von einem Schluchzen begleitet. Worum es ging, konnte Marie-Anna sich denken. Sie nahm die Zeitung und öffnete die Tür.
    Valerian Raabe sah sie ungehalten an, doch sie schlug die betreffende Seite auf und sagte: »Herr Kommerzialrat, ich denke, es geht um dieses Schmuckstück, habe ich Recht?«
    »Was haben Sie damit zu schaffen?«
    »Das verrate ich Ihnen unter vier Augen!«
    Er musterte sie scharf, forderte aber dann: »Rosemarie, geh auf dein Zimmer!«
    »Ja, Herr Onkel!«
    Marie-Anna nahm unaufgefordert Platz.
    »Ich fand es in einem Verzeichnis, das Rosemarie letztes Jahr angefertigt hat. Halten Sie sie für so blöde, ein Schmuckstück zu entwenden, das sie selbst katalogisiert hat?«

    Valerian Raabe schaute mit steinerner Miene aus dem Fenster.
    »Es scheint, ich muss etwas klar stellen, Herr Kommerzialrat. Auch wenn es meine Stellung in diesem Haus wahrscheinlich unmöglich macht.«
    »Was haben Sie verbrochen, Marie-Anna?«
    Es klang nicht mehr zornig, sondern seltsamerweise interessiert.
    »Ich habe gestohlen, Aufruhr gestiftet, Flugblätter mit majestätsbeleidigenden Karikaturen verfasst und Spottlieder auf unsere glorreichen Besatzer gesungen. Ich wurde zusammen mit einem Komödianten, meinem Geliebten, dabei in eine Schlägerei verwickelt und festgenommen. Sie sollten auch wissen, dass mein Vater ein seit Jahren gesuchter Rebell ist. Kurzum, der Sous-Préfet hat mir die Alternative geboten, entweder ins Zuchthaus zu gehen oder die Stellung in Ihrem Haus anzunehmen. Verbunden damit war die Aufgabe, herauszufinden, wer Teile Ihrer Sammlung stiehlt und sie dazu einsetzt, Sabotageakte durchzuführen.«
    »Im

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