Der Lilienring
Man sang die alten Lieder mit, und die beiden Jüngsten trugen Gedichte vor. Valerian Raabe schenkte einen leichten Punsch aus, und durch ihn animiert, erklärte sich sogar Professor Klein bereit, bei den Ratespielen mitzumachen.
Ein bisschen beschwipst ging Marie-Anna später in ihr Zimmer, um sich zu Bett zu begeben. Etwas überrascht war sie, als sie auf ihrer Kommode drei Päckchen vorfand. In einem waren zierlich bestickte grüne Seidenbänder und ein Kärtchen, auf das gepresste Blumen aufgeklebt waren, was Graciella als Schenkerin auswies. Die übersetzte und kommentierte Ausgabe der Germania hatte Rosemarie ihr in ein buntes Baumwolltüchlein eingeschlagen. Marie-Anna lächelte vor sich hin – ihre Gabe an Rosemarie war ebenfalls ein Buch, doch weitaus gewagter als der Tacitus. Sie hatte ihr die »Ars Amatoria« des Ovid ins Zimmer gelegt. Nicht eben ein Geschenk, das man im Rahmen der Familie einer unverheirateten jungen Frau übergab. Das dritte Päckchen war ohne Absender. Doch Marie-Anna hatte so ihren Verdacht. Markus Bretton hatte am Nachmittag noch vorgesprochen. Mochte sein, dass er das feine, bestickte irische Leinen für sie abgegeben hatte. Bedauernd sah Marie-Anna den wundervollen Stoff an. Die Schmuggelware würde sie nicht zu einem Kleid verarbeiten können, auch wenn andere Damen das taten. Solange Faucon ein Auge auf sie hatte, konnte sie allenfalls ein Nachthemd daraus nähen. Oder äußerst luxuriöse Wäsche.
Die nächsten Tage vergingen in verhältnismäßig gro ßer Harmonie, vermutlich vor allem deshalb, weil man häufig Besuche machte oder Gäste kamen. Für Silvester hatten der Kommerzialrat und Madame eine Einladung angenommen. Die beiden alten Herrschaften jedoch behaupteten, dass sie ein derartiges Gedränge nicht sonderlich schätzten und veranstalteten mit den Kindern, Rosemarie und Marie-Anna einen fröhlichen Spieleabend, der mit einer Runde Bleigießen endete. Die Deutung der bizarren Formen, die das geschmolzene Blei annahm, wenn es in das kalte Wasser getropft wurde, war mit heftigem Gekicher und Gealbere verbunden. Rosemarie hatte ein passables Kreuz zusammenbekommen, und Graciella sagte ihr eine Zukunft als Betschwester voraus.
»Oder als Bestattungsunternehmerin«, schlug Großvater Raabe vor, und Marie-Anna gluckste: »Du könntest auch Päpstin werden.«
Graciella produzierte eine Bleifigur, die zu allerlei Spekulation Anlass gab, und unter vielem Gelächter einigte man sich auf die makabere Deutung, es handele sich um ein geknotetes Hanfseil und sie selbst würde als Verbrecherin darin aufgeknüpft werden.
Als Marie-Anna ihr Bleistückchen aus der Schüssel fischte, herrschte einen Moment verblüfftes Schweigen. Es war vollkommen eindeutig, was es darstellte – einen Raben.
»Na ja, man kann nicht unbedingt behaupten, du seiest ein ausgemachtes Rabenaas«, versuchte Rosemarie zu spötteln.
»Raben sind Galgenvögel, wahrscheinlich kommst du mich besuchen, wenn ich an diesem Hanfseil baumele!«, meinte Graciella vorsichtig.
»Die Raben sind Göttervögel, sie sind Boten und Überbringer von Nachrichten, Graciella. Sollten wir es vielleicht
so deuten, dass Fräulein Marie-Anna eine wichtige Nachricht erhält?«, schlug Großvater Raabe vor. Seine Frau hingegen strich nachdenklich über das Figürchen, aber sie schwieg dazu. Doch der Blick, mit dem sie Marie-Anna betrachtete, war seltsam verschleiert.
Es schlug Mitternacht, und man trank sich mit Champagner zu. Das Jahr 1811 hatte begonnen.
Kurz darauf kamen der Kommerzialrat und seine Frau zurück. Er zog sich wortlos in die Bibliothek zurück, aber Madame, in ungewöhnlich heiterer Stimmung, trank noch einen Schluck mit den anderen Hausbewohnern. Dann ging man zu Bett.
»Solche großen Gesellschaften machen ihm immer zu schaffen«, murmelte Valerians Mutter Marie-Anna zu. »Nehmen Sie es meinem Sohn nicht übel, wenn er sich so ungesellig zurückzieht.«
»Nein, gnädige Frau, das nehme ich ihm nicht übel. Ich weiß, wie er auf Bällen und großen, lauten Versammlungen leidet.«
»Braves Mädchen. Im Sommer müssen Sie uns auf dem Gut besuchen. Sie werden sehen, dort ist er wie ausgewechselt. Übrigens, es war sehr großmütig von Ihnen, wie Sie vergangenen Sommer Ihre Ferien für meine Enkelinnen aufgeopfert haben. Ich wollte mich schon die ganze Zeit bei Ihnen bedanken. Wenn Sie einen Wunsch haben, Fräulein Marie-Anna, dann nennen Sie ihn mir.«
»Danke, gnädige Frau. Aber ich bin ganz zufrieden
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