Der Lilienring
Kleidungsstücken, und Marie-Anna erwarb sich dabei die neue Kenntnis, wie man Hosen schneiderte. Sehr sorgfältig waren ihrer beide Nähte nicht, aber für ein Karnevalskostüm mochte es reichen. Als die Dämmerung hereinbrach, waren die Sachen fertig, und Suzette klopfte an die Tür von Ursula Raabes Zimmer, um sie zur Anprobe zu bringen. Offensichtlich war die Leistung diesmal zufrieden stellend, denn Suzette kam mit einem erleichterten Aufseufzen in das Schulzimmer zurück, in dem Marie-Anna nun zwei Lampen angezündet hatte, um zumindest noch die ersten Heftarbeiten an ihrem Hemd vorzunehmen.
»Lassen Sie, Mademoiselle. Ich nehme das mit und mache es für Sie fertig.«
»Ruh du deine Finger und Augen aus, Suzette. Das eilt nicht.«
»Sie waren aber so großzügig, Mademoiselle. Ich würde Ihnen gerne einen Gefallen tun.«
»Ist schon gut. Es wird sich sicher irgendwann eine Gelegenheit finden.«
Suzette räumte ihr Handwerkszeug zusammen und fragte dann plötzlich: »Mademoiselle?«
»Ja, Suzette?«
»Trinken Sie gerne Bohnenkaffee?«
»Natürlich. Wenn ich ihn bekommen kann. Hier wird er nur sehr selten serviert. Der Hausherr duldet nur Moccafaux im Haus.«
»Ach nein? Ich dachte, weil Madame in ihrem Zimmer... Hier, nehmen Sie, Mademoiselle.«
Suzette kramte in ihrem Korb herum und drückte Marie-Anna eine Papiertüte in die Hand, aus der es verführerisch duftete.
»Suzette? Sag mal, schmuggelst du etwa?«
Sie kicherte leise.
»Das ist nicht so schwer. Und die Meisterin zahlt nicht viel, wissen Sie?«
»Wer zahlt dafür?«
»Eine Menge Leute. Ich schenk es Ihnen.«
»Nein, erstens möchte ich nicht gegen die Regeln des Hauses verstoßen, und zweitens... du wirst das Geld brauchen. Also, steck es weg!«
Suzette gehorchte kopfschüttelnd. Aber Marie-Anna begann, sich Gedanken zu machen. Doch Faucon gegenüber mochte sie die kleine Schneiderin nicht erwähnen. Sie war sich nicht sicher, ob sie bei dem Kommerzialrat Gehör finden würde, wenn sie den Verdacht äußerte, dass seine Frau vermutlich über Suzette und ihresgleichen geschmuggelte Luxuswaren ins Haus brachte. Wenn es so war, wusste er es wahrscheinlich und duldete es aus irgendeinem Grund. Oder er wusste es nicht und wunderte sich lediglich über die hohen Schneiderrechnungen von Madame, grinste sie dann in sich hinein.
20. Kapitel
Ferien auf dem Lande
Der Winter nahm seinen ungemütlichen Lauf, brachte Schneematsch und düstere Wolken, vereiste Wege, feuchte Strümpfe und leidige Erkältungskrankheiten mit sich. Marie-Anna verbrachte die Woche nach Karneval in diesem Jahr hustend und niesend in ihrem Bett, steckte Rosemarie an, die sich um sie gekümmert hatte, die wiederum gab Graciella die Schnupfnase weiter. Auch Madame litt – mehr als alle drei zusammen – und wurde von Berlinde gepflegt. Dann bekamen die beiden Kinder die Grippe, Professor Klein zog sich mit Rheumabeschwerden an den Ofen zurück und las noch nicht einmal mehr aus seinen wissenschaftlichen Traktaten vor. Zu Ostern waren alle wieder so weit hergestellt, und auch der Kommerzialrat kam von seiner beschwerlichen Reise zurück. Er war hager geworden und sah müde aus. Doch darauf nahm er wenig Rücksicht. Die Tage verbrachte er wie gewöhnlich in seinem Kontor, die Abende ging er aus. Einmal erlebte Marie-Anna ihn, wie er am Samstag, dem Tag, an dem er gewöhnlich die Abrechnungen durchging, mit Madame einen heftigen Streit ausfocht. Sie wollte im Grunde nicht lauschen, doch die Tür zu seinem Zimmer war nur angelehnt, und Ursula wurde so laut, dass sie jedes Wort von ihr mitbekam. Marie-Anna wurde in ihrem Verdacht bestätigt, den sie bezüglich der Schmuggelwaren hegte. Offensichtlich hatte der Kommerzialrat seiner Frau vor seiner Reise befohlen, die Schneiderin zu wechseln, die völlig überhöhte Preise für ihre Leistungen verlangt hatte. Madame
hatte dies aber nicht getan, sondern weiterhin ihre und Graciellas Frühjahrs-Garderobe bei ihr arbeiten lassen. Er weigerte sich, die Rechnungen zu bezahlen, und empfahl seiner Frau an, die gelieferten Kleider zurückzugeben. Marie-Anna musste an Suzette denken. Das Mädchen war sicher diejenige, die am meisten darunter zu leiden hatte. Sie tat ihr Leid, die Kleine, die ihr aus lauter Dankbarkeit aus dem restlichen Leinenstoff dann doch noch feine Unterwäsche genäht hatte.
Ansonsten hatte das Leben für Marie-Anna seinen Rhythmus gefunden. Neben dem Unterricht und der Arbeit an der Sammlung versuchte sie,
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