Der Lilienring
vorsichtig herauszufinden, welche Art Konterbande Madame von den kleinen Schmugglerinnen bezog. Doch wenn sie es tat, dann sehr vorsichtig. Wohl vermeinte sie, gelegentlich einen Hauch von Kaffeeduft aus den Zimmern der Hausherrin wahrzunehmen, aber da sie die Zimmer nicht betreten durfte, konnte sie sich nicht vergewissern.
Graciella machte sprunghafte Fortschritte in allen Fächern, in denen sie sie unterrichtete. Sie musste um weiteres Unterrichtsmaterial bitten, um ihren Wissensdurst zu stillen. Gelegentlich durfte das Mädchen nun nach ihrem vierzehnten Geburtstag im Mai an kleineren Gesellschaften teilnehmen und war auch jetzt immer bei Madames »Jour fixe« anwesend.
Regelmäßig besuchte Faucon diese Treffen, oft fand sich dazu Markus Bretton ein. Er flirtete mit Hingabe mit Madame, aber seine heimlichen Blicke galten Rosemarie. Marie-Anna hatte sie einmal vorsichtig vor ihm gewarnt, aber im Grunde war ihre bisherige Tändelei eher harmlos und schien nur Faucon zu verärgern. Er sprach weniger mit Marie-Anna, sondern suchte wiederholt Rosemaries Unterhaltung, vornehmlich, wie es Marie-Anna erschien, um sie von Markus fern zu halten.
Der Juni war verregnet, so kühl, dass man abends sogar noch den Kamin anzünden musste. Doch die erste Juliwoche brachte den Sommer mit Schwüle und stickigen Tagen und Nächten in die Stadt. In diesem Jahr sollte Marie-Anna nun endlich die Ferien mit der Familie auf dem großelterlichen Landsitz verbringen. Mit gro ßem Gepäck reiste man ab. Berlinde und ihre beiden Kinder, Graciella, Rosemarie und Marie-Anna machten sich in der voll geladenen Reisekutsche auf den Weg. Madame jedoch hatte sich in diesem Jahr entschlossen, eine Kur in Bad Ems durchzuführen, um ihre von den winterlichen Beschwerden angegriffene Gesundheit zu verbessern. Professor Klein begleitete sie. Er erhoffte sich von den Anwendungen Linderung für seine rheumatischen Leiden. Es hatte eine kurze und heftige Auseinandersetzung darüber gegeben, ob Berlinde ebenfalls nach Bad Ems gehen oder die Zeit mit ihren Kindern auf dem Gut verbringen solle. Madame bestand auf ihrer Begleitung und war der Auffassung, Marie-Anna habe sich um die Kinder zu kümmern. Valerian Raabe indes bestand darauf, dass die Mutter die beste Aufsichtsperson für ihre eigenen Kinder sei und Marie-Anna die ihr zustehende Freizeit erhalten solle. Madame schmollte, genauso wie Berlinde, aber der Kommerzialrat setzte sich durch.
Auch er würde im Laufe des Juli aufs Land fahren, um sich zu erholen.
Marie-Anna war dankbar für die Unterbrechung der Routine. Sie hatte noch zweimal kleinere Diebstähle registriert und sie sowohl Faucon als auch dem Kommerzialrat gemeldet. Sie arbeiteten derzeit an einer Sammlung Medaillons, kleine, aber sehr kostbare, goldgefasste Anhänger und Ringe antiken Ursprungs. Es war Marie-Anna aber gelungen, das Verschwinden der beiden Stücke vor Rosemarie geheim zu halten. Zweieinhalb Monate
lang würde sie nun erst einmal in ihrer Aufmerksamkeit nachlassen dürfen. Auf Graciellas Anraten hatte sie sich ein paar ländliche Kleider geschneidert, nicht modische Hemdchen mit hoher Taille, sondern weite Röcke mit Blusen und Schnürmiedern, ähnlich den Trachten, die sie aus ihrer Heimat kannte. Auch die Stoffe waren eher derb und strapazierfähig statt fließend und fein bestickt. Sie hatte sogar noch etwas darüber hinaus getan, das sie aber in aller Heimlichkeit gefertigt hatte und unten in ihrer Tasche verstaut hatte. Da Graciella ihr verraten hatte, es gebe Pferde auf dem Gut und man würde häufig Ausritte machen, hatte sie sich ein paar Hosen genäht. Ob sie sich allerdings trauen würde, sie zu tragen, stand auf einem anderen Blatt. Als Kind hatte sie, Wildfang der sie war, selbstverständlich rittlings auf den Pferden ihres Vaters gesessen. Während ihres Aufenthaltes in England hatte sie jedoch auch die damenhafte Form des Reitens erlernt, und ihre gelegentlichen Ausritte später waren gemäßigte Ausflüge in Gruppen auf trägen Mietpferden gewesen.
Das Gutshaus war groß und das Gelände von einer alten, mit allerlei Kletterpflanzen und Ranken überwachsenen Mauer umschlossen. Schon im Mittelalter als der Zehnthof bekannt, stand es angeblich auf den Grundmauern einer alten römischen Besiedlung. Rosemarie wusste davon zu berichten, dass sie und ihr Vater vor fünf Jahren, als ein Anbau errichtet worden war, einige Überreste gefunden hatten, die wohl zu Töpfen und Schalen aus jener Zeit gehörten.
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