Der Lilienring
wissen, mit einem Schauspieler zusammengelebt. Die Welt sah in ihm einen Komödianten, Monsieur, doch ist er viel mehr als nur ein lachender Narr. Er ist ungemein belesen und kann fesselnd erzählen. Er ist bewandert in den modernen Stücken, aber ebenso in den alten Sagen, den griechischen und römischen Dramen und Comödien, er beherrscht viele Rollen aus den englischen Theaterstücken Shakespeares. Er hat oft darüber gesprochen, dass hinter allen diesen Geschichten sich ein Muster aus Kräften verbirgt, die immer wieder in neuen Masken, aber mit gleichen Eigenschaften wirken. Manchmal denke ich, er selbst ist dem quecksilbrigen Merkur sehr ähnlich.«
»Also nannte er diese Kräfte Planeten?«
»Sphären.«
»Sephirot.«
»Ja.«
»Und Sie haben ihm genau zugehört, wenn er darüber gesprochen hat?«
»Die Theorie hat mich fasziniert, Monsieur.«
»Sie sind ein erstaunliches Mädchen, Marie-Anna.« Dann lachte er leise auf. »Das Planetencollier gehört gerechterweise um Ihren schlanken Hals gelegt.«
»O nein, Monsieur«, wehrte Marie-Anna ab, aber sie beide lächelten sich mit neu erwachtem Verständnis an.
Der Mond war nun schon zur Hälfte wieder sichtbar, und die Welt schimmerte in seinem Silberlicht.
»Zeit, die Unterrichtsstunde zu beenden. Ihr habt morgen früh Dispens von euren Aufgaben. Geht schlafen, meine Damen!«
»Nein! Nein! Nicht!«
Graciellas Schrei gellte über den Hof, und Marie-Anna, die gerade Wasser an der Pumpe holen wollte, ließ den Eimer fallen und rannte mit fliegenden Röcken in die Küche, woher der Hilferuf erklang.
Berlinde stand am Küchentisch und drückte etwas Rotes, Kreischendes fest mit der Hand darauf. In der anderen Hand hielt sie eine große Schere.
»Was soll das denn? Lassen Sie Feli los!«, rief Marie-Anna, eher verblüfft als erschreckt.
Feli zappelte und fauchte.
»Nein, das muss sein. Wenn sie schon im Haus Mäuse fangen soll, dann darf sie nicht draußen herumstreunen.«
»Sie will ihr die Ohren abschneiden!«
»Du lieber Gott.« Marie-Anna riss der verdutzten Berlinde die Schere aus der Hand. »Sie sind ja wohl des Wahnsinns!«
»Wie sprechen Sie denn mit mir, Mamsell!«
»Lassen Sie das Tierchen los.«
»Halten Sie sich da raus!«, keifte Berlinde los, und Marie-Anna erhob ihre Stimme zu einer nicht unbeträchtlichen Lautstärke. Ihre ganze Abneigung gegen die engherzige und scheinheilige Frau brach sich plötzlich
Bahn, und ein Schwall herzhafter Schmähungen in einer Zunge, die Marie-Anna schon beinahe vergessen zu haben gemeint hatte, ergoss sich über sie.
»Was geht hier vor?«
Valerian Raabe war ebenfalls, von dem Tumult angelockt, in die Küche gekommen, und Marie-Anna verstummte. Graciella hingegen brachte mit zorniger Stimme ihre Anklage noch einmal vor.
»Sie will Feli die Ohren abschneiden.«
»Berlinde, lassen Sie die Katze los. Auf der Stelle!«
»Das ist doch eine harmlose Operation. Das Kind soll sich nicht so anstellen.«
»Marie-Anna, geben Sie mir die Schere!«
»Nein!«
»Doch. Ich werde nämlich jetzt Berlinde die Ohren stutzen. Das ist ja nur eine harmlose Operation.«
Grinsend übergab Marie-Anna die Schere, und Valerian Raabe ging drohend auf seine Schwägerin zu. Die ließ die Katze los und floh durch die Tür nach draußen. Helga, die Köchin, stand in der Ecke und versuchte ihr Lachen zu verstecken. Feli schoss wie ein roter Blitz auf den Holzkorb zu und versteckte sich dahinter.
»Das geht hier ja zu wie in der Kinderstube«, knurrte der Kommerzialrat und sah die Anwesenden kopfschüttelnd an. »Wo stammt dieses Geschöpf her?«
»Ich hab’ sie im Stall gefunden. Sie ist noch ganz jung, Helga meint, sicher noch kein halbes Jahr alt. Die alte Katze ist gestorben, und sie war ganz verhungert. Darum haben wir sie ein bisschen rausgefüttert.«
»Und was hat Berlinde damit zu tun?«
Helga mischte sich ein und erklärte: »Die Gnädige hat mal gehört, Katzen würden im Haus bleiben, wenn man ihnen die Ohren stutzt. Sie behauptet, es regnet den Katzen dann in den Kopf rein, darum gehen sie nicht mehr raus.«
»Blühender Unsinn! Ich werde noch mal ein paar Worte mit ihr reden müssen. So, und jetzt beruhigt euch alle wieder. Der Baumeister, der den Anbau plant, wird gleich eintreffen und die Vermessungen vornehmen. Übrigens, Marie-Anna, in welcher barbarischen Sprache haben Sie eigentlich eben Ihre Schimpfkanonade losgelassen?«
»Ich? In welcher... War es nicht deutsch?«
»Nein, dem Herren sei
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