Der Lilienring
stellte die Lampe vor die Büste eines Mannes, der kurze lockige Haare und einen ebenso kurzlockigen Bart trug. Es war ein markantes, kraftvolles Gesicht, und es wäre beinahe vollkommen zu nennen gewesen, hätte nicht eine lange, wulstige Narbe, die sich von der Stirn über das Auge bis zu den Lippen zog, es entstellt.
»Titus Valerius Corvus«, flüsterte Marie-Anna. »Er muss eine entsetzliche Verletzung erlitten haben.«
Sie zeichnete mit raschen, kundigen Strichen, doch erschien es ihr, als entwickele ihre Hand ihren eigenen Willen. Der Kopf auf dem Papier war von vibrierendem Leben erfüllt.
Rosemarie hatte sich des Frauenportraits daneben angenommen.
»Ulpia Rosina. Sie ist hübsch. Ob sie seine Frau war?«
»Die Inschrift bekundet es«, antwortete ihr Onkel auf die leise Frage.
Marie-Anna beendete ihr Werk und betrachtete die Schale, die zwischen der Männer- und der Frauenbüste stand. Es war eine erlesene Arbeit, eine sanft glänzende Terra Sigillata mit zierlichem Rankenmuster. In ihr hingegen lagen wundersamerweise die Reste von Blütenblättern. Als sie näher heranging und ihr Atem sie streifte, da zerfielen sie zu Staub. Und unten, auf dem Boden der Schale, leuchtete Gold auf. Ein Halsring war es, ein massiver, goldener Halsring, nicht ganz geschlossen, und die beiden Enden zierte jeweils ein Vogelkopf.
»Monsieur, schauen Sie!«
»Ein keltischer Torques«, murmelte Valerian Raabe.
»Und ein kleinerer Ring.«
Sie beugten sich beide über die Schale und betrachteten den Ring, der innerhalb des Torques lag. Wie aus einzelnen Stäbchen schien er zusammengefügt zu sein, deren Enden oben und unten in kleinen Kügelchen endeten.
»Er hat eine Gravur«, hauchte Marie-Anna. Valerian Raabe nahm sehr vorsichtig den Ring hoch und hielt ihn ins Licht.
»Omnia Vincit Amor – Alles besiegt die Liebe.«
»Legen Sie ihn zurück, Monsieur. Bitte.«
»Natürlich.«
»Ich zeichne die Schale.«
»Tun Sie das. Was zeichnest du, Rosemarie?«
»Valeria Gratia, ein junges Mädchen.«
»Die Tochter des Valerius, nehme ich an.«
Es war ein junges Gesicht, eine sechzehn oder achtzehnjährige Römerin, ihrem Vater sehr ähnlich, mit einem festen, energischen Kinn und einem offenen Blick. Nicht unbedingt schön, aber charaktervoll und ein wenig spitzbübisch.
Als Letztes nahm sich Marie-Anna des Bildnisses des Martius an. Unerklärlicherweise stand er nicht als Marmorbüste in seiner Nische, sondern lag als gerade faustgroßes Glasköpfchen inmitten eines bronzenen Halsreifes. Leicht grünliches, fast klares Glas, doch er war deutlich zu erkennen. Ein ebenfalls noch junger Mann, doch von einer Ähnlichkeit mit Valerius war nichts zu bemerken. Aber darüber zu spekulieren verbat sich Marie-Anna im Moment noch. Konzentriert arbeitete sie weiter. Nur einmal blickte sie auf und sah, wie Rosemarie mit verzücktem Gesicht die Büste des Lucius Aurelius Falco zeichnete. Wie ein Leuchtfunke durchfuhr es ihre Gedanken! Mit einem Mal wusste sie, welchem Falken
der Brief galt, an dem ihre Freundin so eifrig geschrieben hatte.
»Genug für heute!«, befahl Valerius Raabe.
Sie verließen die Grabkammer, und Meister Berolf und seine Männer bekamen den Auftrag, den Eingang zu schließen und zu sichern.
Sie wurden mit Fragen bestürmt, mussten ihre Skizzen ausbreiten, und wildes Spekulieren begann.
»Was werden Sie mit dem Fund machen, Herr Kommerzialrat?«, wollte der Baumeister wissen.
»Ich weiß es noch nicht. Wahrscheinlich sollte ich die Archäologische Gesellschaft informieren. Hätten wir noch eine Universität, würde ich mich dorthin wenden. Mal sehen.«
»Werden Sie meinen Vater informieren, Onkel Valerian?«
»Er würde wahrscheinlich spornstreichs aus seiner Trinkkur hereilen. Ich denke darüber nach.«
Es wurde spät an diesem Abend, und erst als die Pendeluhr in der Wohnstube elf Uhr schlug, waren alle in ihren Zimmern verschwunden. Graciella schlief schon fest, Feli leise schnarchend auf ihrem Kopfkissen. Rosemarie hatte noch einmal den Brief gelesen, den sie erhalten hatte, und war dann ebenfalls, das Schreiben unter ihrem Kopfkissen, in tiefen Schlummer gesunken. Nur Marie-Anna fand keinen Schlaf. Nachdem das leise Klingen der Uhr die nächste halbe Stunde läutete, nahm sie ihren Shawl und verließ die Kammer. Auf Zehenspitzen schlich sie an dem Turmzimmer vorbei die Treppen zum Dach empor.
Es war schwül, die Luft stand unbewegt über dem Land, aber hoch droben am Himmel ballten sich
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