Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Lilienring

Titel: Der Lilienring Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
Vom Netzwerk:
und rührte an Gefühle, über die nachzudenken, geschweige denn zu sprechen, sie sich bisher nicht getraut hatte.
    »Fällt es Ihnen schwer?«
    Marie-Anna seufzte.
    »Ja, ein wenig.«
    Er reichte ihr den Becher. Sie trank und stellte dann fest: »Die Schale ist ein Meisterwerk römischer Töpferkunst, nicht wahr?«

    »Ja, das ist sie.«
    »Und doch – sie hat einen Sprung. Ich habe beim Zeichnen bemerkt, dass er nicht zufällig entstanden ist. Jemand hat einen spitzen Gegenstand an einer Stelle angesetzt und sie auf diese Weise angeschlagen.«
    »Das habe ich ebenfalls bemerkt. Ein Kunstwerk, dem wissentlich und willentlich ein Fehler zugefügt wurde. Es scheint mir einen tiefen Sinn zu haben.«
    »Und eine Verbindung...«
    »Zu jener ungewöhnlichen Büste des Valerius Corvus.«
    »Ja.«
    »Künstler jener Zeit hätten eher ein ideales Bildnis von ihm geformt und die entstellende Narbe verschwinden lassen. Meinen Sie das?«
    »Ja, ich glaube schon. Was bedeutet die Inschrift unter der Schale, Monsieur? Meine Lateinkenntnisse sind leider gering.«
    »Sie beginnt mit einem üblichen Grabspruch: ›Dieses Denkmal setzte Titus Valerius Corvus der Töpferin Annik, Tochter der Deneza.‹«
    »Sie sehen eine Verbindung zwischen der Töpferin und diesem Mann?«
    Valerian Raabe nickte.
    »Es ist ein ungewöhnliches Arrangement, da stimme ich Ihnen zu. Eines, das sehr nachdenklich macht. Uns beide zumindest. Stand noch etwas auf dem Gedenkstein?«
    »Ja, Marie-Anna. Es folgt:›Era! Möge die Erde dir leicht sein.‹«
    »Era?«
    »Herrin, Geliebte.«
    »Ulpia Rosina war seine Gattin.«
    »Ja.«
    »Und in der Schale lag der Ring mit der Inschrift: ›Omnia Vincit Amor‹.«

    »Ja.«
    Marie-Anna stand auf und schritt über das Dach, blieb eine Weile entfernt von Valerian Raabe stehen und kam dann nachdenklich zurück.
    »Wie muss er sie geliebt haben.«
    Ganz leise hatte sie es ausgesprochen, und der Mann neben ihr bestätigte ebenso leise: »Ja.«
    Sie trank wieder von dem schweren Rotwein und lehnte den zurückgeneigten Kopf an die kühlen Steine. Ein Wind war aufgekommen und ließ einige lose Haarsträhnen um ihr Gesicht flattern. Zwischen den Wolken leuchtete der halbe Mond hervor, und in seinem Licht schimmerten die Tränen auf Marie-Annas Wangen.
    »Weinen Sie um Ihre Liebe?«
    »Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, warum ich weine.«
    »Nein, manchmal weiß man das nicht. Und doch, etwas rührt Sie zutiefst. Noch etwas mehr, nicht wahr?«
    »Ja, Monsieur, noch etwas mehr.« Sie richtete sich auf und wischte mit einem Zipfel ihres Shawls die Tränen fort. »Die Töpferin, Monsieur, war keine Römerin.«
    »Wahrscheinlich nicht. Der Halsreif deutet auf ihre gallische Herkunft, würde ich meinen.«
    »Aber eine gallische Töpferin, die einen derart kostbaren Schmuck trägt...?«
    »Die Tochter der Deneza muss von hoher Geburt gewesen sein.«
    »Und …«
    »Ja, Marie-Anna?«
    »Ihr Name, Monsieur. Ihr Name! Er ist in meiner Heimat üblich. Mein Vater, und manchmal auch meine Mutter, nannten mich Annik. Kleine Anna. Meine Mutter hieß Denise, mein Vater nannte sie in seiner Sprache Deneza.«
    »Ja, mein Herz, das ist ein seltsames Zusammentreffen.
Und noch mehr als das. Denn Titus Valerius trägt den Zunamen Corvus. Das bedeutet Rabe.«
    Sie schwiegen beide, Valerian Raabe war aufgestanden und blickte über das dunkle Land. Marie-Anna stellte sich neben ihn und sah empor. Am aufgeklarten Himmel leuchteten die Sterne, und ab und zu huschte ein glühender Streif durch das Gefunkel.
    »Sternschnuppen – die Tränen des Laurentius«, murmelte Valerian Raabe. »Wussten Sie, dass die keltischen Druiden, die Weisen Ihrer Vorfahren, glaubten, die Seele des Menschen wandere? Sie sagten, sie geht nach ihrem Tod in eine andere Welt ein, um dort so lange zu leben, bis sie sich entschließt, in diese Welt in anderer Gestalt zurückzukehren.«
    »Aber wenn das so ist, dann müssten wir uns doch erinnern! Monsieur, dann müssten wir uns an irgendetwas erinnern.«
    »Tun wir das nicht, Marie-Anna? Mag es nicht sein, dass unsere Seelen sich erinnern? An Valerius Corvus und seine Töpferin Annik. Hast du deswegen geweint, mein Herz? Ohne zu wissen, warum?«
    Marie-Anna drehte sich zu ihm um, aber der ungewohnte und schwere Wein hatte seine Wirkung getan, und sie schwankte. Er fing sie auf und zog sie an sich.
    »Ich... mir ist so schwindelig.«
    »Ich verstehe. Der Wein. Ich habe nicht daran gedacht, dass du ihn nicht gewöhnt bist.

Weitere Kostenlose Bücher