Der Lilith Code - Thriller
»Stellt euch die Bilder vor, wie wir den staubigen Weg gemeinsam zum UN-Quartier gehen. Stellt euch vor, wie stark, souverän und einig das auf unser Volk wirkt.«
Seit einigen Tagen sprach der Präsident von einem Volk, statt die Unterschiede der Länder zu betonen. Zwar war das den anderen auch aufgefallen, aber sie hatten es in ihren Reden einfach übernommen. Bashar nannte es die »normative Kraft des Faktischen«. Dennoch bemerkte er auch die Vorsicht der Anderen. Sie befürchteten, dass er wie einstNasser die Macht über alle an sich reißen wollte. Heute würde er ihnen den Wind aus den Segeln nehmen. Das hatte er seiner Frau versprochen.
Am frühen Vormittag hatte Sayaf, sein Geheimdienstchef, ihm eine mysteriöse Andeutung gemacht. Faruk Al-Ali, sein Distriktchef in Aleppo, den Bashar schätzte, sollte ein Verschwörer sein und mit dem Westen zusammenarbeiten. Seit Tagen war Faruk wie vom Erdboden verschwunden, zuletzt hatte er sich bei der syrischen Botschaft in Berlin abgemeldet. Danach verlor sich seine Spur. Bashar war enttäuscht. Wieder ein Mensch weniger, dem er vertrauen konnte. Er gab Sayaf grünes Licht, den Verräter aufzuspüren und nötigenfalls zu exekutieren. Zu oft hatte er in den letzten Monaten den Befehl zu solchen Aktionen geben müssen, um seine Ziele durchzusetzen. Bald wäre damit Schluss. Ein Leben ohne Dossiers des widerlichen Deutschen und des Schlachters Sayaf, keine latenten Drohungen der Sunniten im Land, der Offiziere. Er könnte sich zurückziehen.
Denn sein Plan stand fest. Er wollte den Zug der Union auf die Spur setzen. Wenn die Lokomotive dann fuhr, wollte er abspringen und damit auch seine Verantwortung abgeben. All die alawitischen Freunde, Verwandte und Parasiten, die sein Vater in wichtige Ämter hatte einsetzen lassen, würden von den neuen panarabischen Strukturen zwar hinweggefegt werden, aber danach wären er und seine Familie keiner Putschgefahr mehr ausgesetzt. Der allmächtige Geheimdienst, bislang quasi eine Nebenregierung mit ihren versteckten Spielchen und Aktionen, die ihm zu häufig nicht hinterbracht wurden, wäre bald Vergangenheit. Auch seine Baath-Partei würde sich den demokratischen Spielregeln beugen müssen. Für alle war das Neuland. Die Karten würden neu gemischt werden. Aber das Land würde seinen Frieden finden und mit ihm die ganze Region. Bashar spekulierte auf die Wirtschaftskraft, die aus dieser Region kommen konnte. Trotz der derzeitigen Instabilität hatte der türkischePremierminister vor wenigen Stunden in einem Telefonat sein Interesse an einen Beitritt seines Landes zu der Union mitgeteilt. Auch wenn sie nicht Araber seien, so würden sie nach den schmachvollen Jahren der Ablehnung durch die Europäische Union ihre Wirtschaftskraft und die Kauf- und Arbeitskraft ihrer mehr als 70 Millionen Einwohner in den neuen Wirtschaftsblock einfließen lassen wollen. Konnte der Traum Wirklichkeit werden? Ihm drohte die Zeit, einer Nadel gleich, diesen Traum wie einen Ballon zu zerstören. Denn sein Land stand am Rande der Pleite. Die vorsichtige Öffnung zum Westen hin hatte nicht die notwendige Wende gebracht. Die Union war sein letztes Blatt. Und so beruhigte er notgedrungen den Jordanier und ging die drei wichtigsten Punkte für Qunaitra mit seinen Amtskollegen Punkt für Punkt durch.
Dera’a, 23. 06., 9.35 Uhr
Mir ist die gefährliche Freiheit lieber als eine ruhige Knechtschaft.
Aus: Jean-Jacques Rousseau »Vom Gesellschaftsvertrag«
Sie hatten noch im Schutz der Dunkelheit die Berge des Hauran überquert. Als die Sonne rot schimmernd im Osten am Horizont erschien, fuhren sie schon durch die fruchtbare Nuqra-Ebene. An den Seiten sahen sie Menschen zwischen Weinrebstöcken, die die Trauben, wie Faruk erklärte, für Syriens berühmten Arak, den Anisschnaps, liefern. Faruk fuhr den Militär-Jeep mit Günther und Almut, Alistair fuhr mit Regina und dem alten Fischer in seinem Land Rover. Sie vermieden, dicht hintereinander zu fahren, um nicht aufzufallen.
In wenigen Minuten, so dachte Faruk, würde Sayaf in sein Büro kommen und die Beschreibung über ihn vorfinden.Dann würde er sehr schnell alle Distriktchefs sowie Militärposten alarmieren und ihn überall suchen lassen. Wenn überhaupt, hatte er nur noch wenige Stunden, um über die Grenze zu gelangen.
Regina schien sich nicht zu erholen. Sie lag schweißnass in dem Sitz, den Kopf vornübergebeugt, und würgte, bis ihr Kopf puterrot anlief. Der Schotte machte sich große
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