Der Lilith Code - Thriller
armenische Arzt wurde von den Splittern wie von Geschossen in den Rücken und den Kopf getroffen. Ed wurde gegen die Tür geschleudert, deren Resopalverkleidung unter seinem Aufprall zerbrach. Jan fiel gegen einen Polstersessel, der die schlimmste Kraft des Stoßes nahm. Schlimmer verlief es für die anderen beiden: Al-Ali, neben dem Armenier am Fenster stehend, wurde von der Wucht wie eine Puppe in die Ecke des Raumes gedrückt, und sein junger Assistent konnte einem Stück Metall, das aus dem Fensterrahmen gerissen wurde, nicht mehr ausweichen und wurde tödlich am Hals getroffen.
Die zweite und dritte Detonation hörten die Überlebenden nur gedämpft, ihre Trommelfelle konnten gerade noch dumpfe Töne übertragen. Putz fiel von der Decke. Sirenen heulten, Menschen schrien.
Jan schloss die Augen.
Es war die Zeit des Nachmittagsgebets. Aber in Aleppo rief kein Muezzin.
Aleppo, 14. 06., 16.05 Uhr
Aber jede Lebensanschauung, die den Sinn des Lebens von einer äußeren Bedingung abhängig macht, ist Verzweiflung. Dem Leid zu leben ist also im gleichen Sinne Verzweiflung, wie dem Genuss zu leben; denn das ist eben Verzweiflung, sein Leben in etwas zu haben, dessen Wesen es ist, zu vergehen.
Aus: Sören Kierkegaard, Philosophische Schriften
Regina Bachmeier hatte es bis zu ihrem kleinen Hotel in der Altstadt geschafft, ohne dass sie jemand mit dem nackten Toten in Verbindung bringen konnte. Im Schutz der Nacht hatte sie ein Taxi angehalten und war unter fürchterlichen Schmerzen in ihrem Zimmer angekommen. Als ehemalige Polizistin und einziges weibliches Mitglied der österreichischen Anti-Terrorgruppe »Kobra« wusste sie mit Schmerzen umzugehen. Mit einem Kleiderbügel und Tapeband hatte sie die Hand fixiert. Ihr war jedoch klar, dass der Bruch in den nächsten Stunden von einem Arzt behandelt werden musste. Alkohol gab es in der Minibar nicht, also nahm sie drei Schmerz- und zwei Schlaftabletten und versuchte zu schlafen.
Am nächsten Morgen, nachdem sie ihren Rucksack gepackt hatte, erklärte sie dem alten Mann an der Rezeption, sie sei in der Dusche ausgerutscht und suche nun ein Krankenhaus, in dem man der englischen Sprache mächtig sei. Er hatte ihr das St. Louis Hospital empfohlen.
Nun stand Regina Bachmeier hier neben schwarz verhüllten Frauen, die schreiende oder weinende Kinder auf dem Schoß hatten. Sie hatte ihren Kopf an die Wand gelehnt, versuchte, Schmerz und Angst zu verdrängen und sich noch einmal alle Fakten zu vergegenwärtigen.
Im Januar hatten Almuts Eltern sie kontaktiert. Im November des Vorjahres war die Kriminalermittlerin ihrem Rauswurf mit einer Kündigung zuvorgekommen. »Ihre Methoden«, so hatte der Polizeipräsident Wiens erklärt, »wärenhöchstens im Nahen Osten erfolgreich.« Der Dezember war nur noch eine schemenhafte Erinnerung an durchsoffene Nächte in dem Berggasthof ihrer Familie oberhalb Innsbrucks. Sie kam aus kleinen, fast ärmlichen Verhältnissen, hatte nach der Realschule die Polizeikarriere eingeschlagen, war immer Jahrgangsbeste gewesen und hatte mit stiller Zähigkeit die Matura in ihren wenigen freien Stunden nachgeholt. Sie galt die ersten Jahre als verschlossen und verbissen. Zweimal lehnte ihr Vorgesetzter die Aufnahmeprüfung zur Sondereinheit Kobra mit fadenscheinigen Gründen ab. Dann schrieb sie an das Innenministerium und bekam ihre Chance. Vierhundert Bewerbungen, zehn Kandidaten wurden in der Regel genommen. Regina Bachmeier war einer von ihnen. Und wieder biss sie die Zähne zusammen, wurde jedes Jahr ausgezeichnet, um dann in den Kriminaldienst zu wechseln. Keine Beziehung konnte diesen Ehrgeiz aushalten. Der Schmäh der Kollegen, gespeist aus Neid, Missgunst und dem üblichen österreichischen Sarkasmus, perlte an ihr ab. Doch dann der missglückte Einsatz. Alles zerbrach. Keiner half. Statt Mitleid blanke Häme. Und wie ein waidwundes Tier hatte sie sich in den verkommenen Gasthof 1500 Meter oberhalb der Tiroler Landeshauptstadt verkrochen.
In einem nüchternen Moment hatte sie ein Telefonat angenommen. Ihr alter und einziger Mentor, Geheimrat Gruber aus dem Innenministerium, hatte sie einer verzweifelten Familie empfohlen. Und so konnte sie allen Frust über Bord werfen und sich in die Arbeit stürzen. Almut, vierzigjährige Tochter eines Bauunternehmers aus dem Osten Österreichs und arbeitslose Archäologin, war seit einem Aufenthalt in der Türkei 1999 spurlos verschwunden. Ihr Institut an der Uni Linz hatte Almuts Zeitvertrag zuvor
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