Der Lilith Code - Thriller
seine Aufgabe darin bestand, jeden, der dem Präsidenten und dem Land schaden konnte, frühzeitig zu erkennen und zu vernichten.
Ihn schön zu nennen wäre übertrieben gewesen, denn die Brandnarben am Hals, das schon schüttere Haar und die etwas zu langen Finger wirkten nicht sonderlich attraktiv. Aber alles an ihm strahlte Konzentration und stille Überlegenheit aus. Weder war von dem 47-Jährigen jemals ein lautes Wort zu hören, noch hatte er in den vergangenen Jahren einen seiner »Kunden« angerührt, geschweige denn geschlagen, aber jeder, der ihn kannte, wusste von seiner Gefährlichkeit – erst recht hier im Gefängnis von Sednaya. Es war ein Ort der Hoffnungslosigkeit mit seinen Folterkellern im y-förmigen Gebäude, zwei Kilometer außerhalb der Stadt. In diesem Bauwerk hatte die Regierung die Staatsfeinde, die Terrorverdächtigen und die aus ihrer Sicht ewigen Unruhestifter inhaftiert und mit härtesten Methoden zum Schweigen oder eben zum Reden gebracht.
Faruk Al-Ali hatte nie viel davon gehalten, von Menschen ein Geständnis zu erpressen, aber nicht, weil er Gewalt ablehnte, dazu hatte er von frühester Kindheit an zu viel selbst erleben müssen. Er jedoch bevorzugte das Gespräch. Ein Gespräch, das wie das Schälen einer Zwiebel verlaufen musste. Je mehr man fragte, desto mehr Schmerzen konnte es bereiten. Er nutzte Abhängigkeiten und Wünsche. Sein dicht gesponnenes Netz aus Zuträgern in allen Gruppierungen des Landes und in den syrischen Gemeinden des Auslands wardas Resultat vieler Jahre der stillen, aber hartnäckigen Arbeit. So hatten es ihm seine Lehrer beigebracht, und das waren die besten gewesen.
Wegen dieser drei Leichen nun hatte er in der Hitze des Frühsommers das kühle Aleppo im Norden verlassen und über staubige Landstraßen in dieses Loch fahren müssen. Obwohl er mit ganzem Herzen Syrer war, hasste er das Wüstenland. Wann immer er konnte, zog es ihn ans Meer. Er lebte dort allein in seinem Ferienhaus. Die vergangenen Jahre hatte er seinem Land, seiner Arbeit und dem Machterhalt seines Präsidenten geopfert. Diese Jahre aber hatten ihn auch desillusioniert, ihm die Hoffnung geraubt, dass er jemals Frieden in dieser Region erleben würde.
Der Anstaltsarzt kam mit einem blutverschmierten Kittel herein. Er wollte mit den üblichen Begrüßungsformeln beginnen, als Al-Ali nur kurz die Hand hob. Der Arzt verstand. Dennoch zündete er sich eine nach Rosenöl duftende Zigarette an. Es störte Al-Ali, aber er ließ es sich nicht anmerken.
»Alle vier Körper weisen jeweils Einschusswunden im oberen Halswirbelsäulenbereich und im Kopf auf, bei dreien waren sie tödlich und hätten jeweils einzeln zum sofortigen Tod geführt. Der vierte wurde nicht mit der gleichen Präzision getroffen. Daher nicht der sofortige Exitus. Er liegt auf unserer Krankenstation, ist künstlich komatös, ein Treffer verfehlte die Wirbelsäule nur um Millimeter, drang aber rechts davon in Leber und Blase ein. Die Kopfwunde aber wird für ihn in den nächsten Stunden tödlich sein. Überhaupt sind alle Schusskanäle von oben nach unten gezogen. Der oder die Täter müssen also oberhalb des Opfers gestanden haben. Bei der Tatwaffe handelt es sich vermutlich um eine Ceska 83 mit aufgeschraubtem Schalldämpfer, von unseren tschechischen Freunden.«
Der Arzt schaute Al-Ali erwartungsvoll an, suchte nach Anerkennung angesichts seiner Waffenkenntnis. Aber der Geheimdienstmann verzog keine Miene, wollte so vieleInformationen wie möglich aufnehmen und dann wieder vor Einbruch der Dunkelheit zurück in Aleppo sein. Er forderte den Arzt mit einer knappen Geste zum Weiterreden auf.
»Alle vier Männer haben die gleiche Kennzeichnung: eine Tätowierung im Nackenbereich, die eine Acht zeigt. Sie sind vermutlich türkischer oder arabischer Herkunft, beschnitten, und alle weisen ältere, nicht von diesem Kampf stammende Narben an verschiedenen Stellen des Körpers auf.«
Al-Ali schaute nach rechts zu einem seiner Assistenten, dem jungen Abdul, einem irakischen Flüchtling, der unter seinen Fittichen trotz seiner Herkunft Karriere machen durfte.
Abdul schlug eine Mappe auf und begann mit seinen Erkenntnissen. »Wir haben nachgeforscht. Auch bei unseren Sonderabteilungen. Nichts bekannt, keine Hinweise auf eine Bruderschaft oder Ähnliches. Die Tätowierungen werden derzeit von unseren Kollegen an der Universität in Damaskus abgefragt.« Der Arzt wollte sich bereits wieder abwenden, doch Al-Ali war nicht zufrieden.
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