Der Lilith Code - Thriller
lagen. Immer wieder ging das Verbandsmaterial aus, die Ärzte mussten dann warten, bis neues gebracht wurde. Der Boden war bedeckt mit Kanülen, Verpackungsmaterial und blutigen Mullbinden. Hatte Jan eben noch schwerste Brandverletzungen bei einem Kleinkind versorgt, kam ihmwenig später ein offener Rücken mit Hunderten kleiner Schrauben, die die Bomben gestreut hatten, unter die Hände. Hier mussten die Pfleger die kreischenden Angehörigen aus den OP-Räumen drängen, dort eine Arterie abdrücken, die aus dem Stumpf eines abgerissenen Beines herauspulsierte. Es war wie in einem Kriegslazarett, laut, chaotisch und dennoch einem bestimmten Ablauf folgend.
Jan arbeitete wie in Trance. Er wusste die Kräfte wie bei einem Marathonlauf einzuteilen, behielt die Übersicht und wies nach wenigen Stunden andere, unerfahrene syrische Ärzte ein.
Zwölf Stunden arbeitete er ohne Pause durch. Kurz nach Mitternacht, auf dem Weg zwischen zwei OP-Räumen, war ihm ein Vater, dessen Jungen er gerettet hatte, auf dem Gang weinend um den Hals gefallen. Das nächste Opfer, ein zwölfjähriges Mädchen, dessen Rücken von den Schrauben und Nägeln der Bombe fast schwarz war, starb, ehe er das Besteck in den Händen hielt. Und der nächste Fall wartete schon.
Trotzdem musste er sich eine Pause gönnen. In einem Chefarztzimmer, das zu einem provisorischen Aufenthaltsraum für die Helfer umfunktioniert war, trank er einen Kaffee. Einer seiner neuen Kollegen lächelte ihn müde an und legte ihm eine Kardamom-Kapsel auf die Untertasse. Es war dieses stumme Verstehen zwischen Profis, das man überall auf der Welt antreffen konnte.
»Was haben wir noch?«, fragte Jan. Von draußen klang der erste Ruf des Muezzins in die Morgendämmerung. Für einen Moment war die Welt hier aus den Fugen geraten, aber der Gesang bewies, dass das Leben weiterzugehen hatte.
»Eine junge Frau, eine aus deiner Heimat, sitzt noch draußen. Nichts Schlimmes, aber sie hat sehr diszipliniert gewartet. Magst du sie übernehmen?«, fragte sein syrischer Kollege.
Jan gähnte und kippte den Rest Kaffee in sich hinein. Er schüttelte sich und ging in den Diagnoseraum.
Die Frau war blond, hatte breite Schultern und ungewöhnlich muskulöse Unterarme. Sie trug eine Cargohose und ein langes, verwaschenes Sweatshirt. Ihre blauen Augen blickten ihn müde an. Er drückte auf die Desinfektionsbox, rieb sich die Hände ein und fragte: »Warum sind Sie hier?«
Wortlos hob die Frau ihren linken Arm. Er öffnete den provisorischen Verband, warf den Kleiderbügel in einen Mülleimer.
»Wie ist das passiert?«
»Ausgerutscht.«
»Also nicht die Bomben?« Jan schaute sie verwundert an.
»Nein, die Explosion habe ich hier im Haus erlebt, als ich auf einen Arzt wartete.« Die Frau sprach mit einem österreichischen Dialekt, der auf Jan immer etwas spöttisch wirkte. Ihm fehlte jedoch die Kraft für eine weitergehende Konversation, und auch die Frau schien froh, dass während der Behandlung nur das Notwendigste gesprochen wurde.
Jan sah sich die Röntgenbilder an, die den Anschlag leicht demoliert überstanden hatten, und entschied, dass nicht operiert werden musste. Das Handgelenk war nicht gebrochen, aber völlig überdehnt. Daher schiente er die Hand, fragte eine Schwester nach Schmerzmitteln und wollte sich schon dem nächsten Patienten zuwenden, als die Frau mit ihrer verletzten Hand versuchte, ihren Rucksack hochzuheben. Der gesamte Inhalt ergoss sich über den Boden. Jan kniete nieder, um ihr zu helfen. Er erkannte es sofort: Zwischen Tickets und ihrem Reisepass sah er den roten Einband mit dem Mond. Das war eindeutig der andere Teil des Tagebuchs, das er bei Yussef gefunden hatte.
Er schaute verblüfft zu der Frau auf. »Wo haben Sie das her?«
Die Frau zuckte zusammen. Trotz seiner Erschöpfung war Jan hellwach. Er stand auf, mit einer schnellen Bewegung wollte die Frau ihm das Tagebuch wieder aus derHand reißen. Jan zog es weg. »Woher haben Sie das?«, wiederholte er in einem schärferen Tonfall.
Die Frau funkelte ihn an. »Das geht Sie überhaupt nichts an. Das Buch gehört mir«, fauchte sie. »Und glauben Sie nicht, dass ich es mir nicht holen kann.«
Jan hob die Hände und hielt ihr die Kladde entgegen. »Bitte!« Zögernd nahm die Frau das Buch an, verstaute es wieder und gab ihm dann in einer schnellen Geste die Hand. »Regina Bachmeier, ich komme aus Österreich.«
»Und was machen Sie hier?«, wollte Jan wissen.
Einen Moment schien die Frau zu
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