Der Lilith Code - Thriller
und Kriegsgebieten der Welt der Traum einer großen islamischen Welt gegen die Welt der Ungläubigen auf. Wir waren eure westliche Überheblichkeit, eure Dekadenz und eure dumpfe Selbstzufriedenheit satt. Eure westliche Demokratie-Idee war eine Jacke, die uns nicht passen wollte. Waren wir nützliche Büttel im Kampf gegen die Kommunisten, konnten wir uns wie in Afghanistan gar nicht vor Unterstützung retten. Aber wehe, wir suchten den Weg der Unabhängigkeit. Dann waren wir rückständige, im Mittelalter denkende und lebende Irre.« Der Imam ließ die letzten Worte verhallen. Doch statt die Traurigkeit in seiner Stimme zu registrieren, musste Jan wie jeder Intellektuelle aus dem Westen argumentieren. »Der iranische Präsident ist doch zweifellos wahnsinnig. Er droht, die Atombombe auf Israel zu werfen …«
Der Imam hob die Hand. »Ja, unter uns gab es nie Einheit. Der Mann, von dem du so unwissend sprichst, ist Schiit. Die Schiiten hassen die Sunniten, fühlen sich immer unterlegen. Hinzu kommt, dass ihr Glaube das Märtyrertum in den Vordergrund stellt. Sie leiden oft, und sie leiden gern. Die islamische Gemeinde, die Umma, ist so zersplittert, dass wir froh sein können, nicht so zu leben wie die Brüder und Schwester im Irak, wo sich Gläubige, Allah, dem Großherzigen, sei es geklagt, jeden Tag abschlachten.« Er machte eine Pause. »Dennoch war diese Region schon immer erfüllt von Träumen nach großen Reichen, gespeistmeist von einer Religion. Die Idee des Göttlichen muss so entstanden sein. Nicht weit von hier liegt eine archäologische Sensation, von der Welt weitgehend ignoriert: Göbekli Tepe, der erste Tempel der Menschheit, bevor sie sesshaft wurde. Es muss in den Ohren meiner Brüder und Schwestern ketzerisch klingen, aber ich glaube, dass diese Region hier etwas Besonderes, etwas großartig Verwirrendes besaß und immer noch besitzt. Vielleicht hat das auch deine Vermisste so gespürt.«
Regina runzelte die Stirn. »Sie war schon vorher etwas wirr«, sagte sie leise.
»Oder hat etwas verstanden, was wir noch nicht verstehen«, fuhr Abdul fort. »Wir sollten nicht zu arrogant sein mit solchen Menschen. Immerhin war sie wie ich akademisch vorgebildet, kannte sich aus in der Welt der vorislamischen Kulte und Religionen.« Er tunkte etwas Fladenbrot in die ölig schimmernde Sauce. Das Licht der Flammen flackerte an der Decke. Der Imam wandte sich wieder an Jan. »Was ist dir widerfahren? – Deine Trauer wird dich erdrücken. Befreie sie.«
Jan schrak auf. Mit dieser persönlichen Ansprache hatte er nicht gerechnet. »Wie kommst du darauf, dass ich trauere?«
»Wenn etwas geht, kommt etwas hinzu. Der Koran sagt: ›O Seele in Ruhe und Frieden, kehre zurück zu deinem Herren, wohl zufrieden, weil er mit dir zufrieden ist. So tritt ein unter Meine Gläubigen und tritt ein in Mein Paradies.‹«
Jan schaute den Imam an. Er hatte immer angenommen, dass keine Religion ihm würde helfen können. »Meine Trauer hat mit dem Tod meines Sohnes zu tun. Ich allein hätte seinen Tod verhindern können.« Seine Stimme klang lauter und heftiger. »Meine Familie wäre noch intakt, und ich müsste nicht hier am Ende der Welt Angst um mein Leben haben. Ich habe Schuld auf mich geladen, einfache, kalte Schuld.«
Der Imam starrte vor sich hin. Schatten verliefen über sein Gesicht.
Regina fragte ihn leise: »Woher weißt du das vom Tod des Sohnes?«
»Ich weiß es nicht, aber ich kann es sehen. Jan …«, er machte eine Pause, um das Wort noch deutlicher in den Raum zu stellen, »… zeigt seine Trauer wie eine Braut ihr Kleid am Tag der Hochzeit.«
»Ein etwas unpassender Vergleich, findest du nicht?«, meinte Regina. Nun duzte auch sie den Imam.
»Du musst ihn nicht verteidigen. Sein Leid ist schwer. Der Verlust eines Kindes ist eine der größten Prüfungen, die Allah, sein Name sei gepriesen, uns auferlegt. Aber es ist eben eine Prüfung, und wir alle haben die Kraft, sie zu bestehen.« Der Blick des Imams richtete sich wieder auf Jan, der fast trotzig weiter in das Schwarz der Nacht starrte. »Du bist nicht ohne Grund hier in Syrien«, sagte er leise.
Fatima brachte die Hauptspeisen. Mansaf, Reis, in einer sehr fetten Flüssigkeit gekocht mit Hammelfleisch und frittierten Mandeln, dazu stellte sie eine Karaffe mit Schafsmilch auf die Kupferplatte, die auf dem Boden vor ihnen lag. Jan schüttete sich etwas Milch in einen Becher und trank vorsichtig. Sie schmeckte säuerlich und etwas scharf, aber nicht
Weitere Kostenlose Bücher