Der Lilith Code - Thriller
Stunden um Mandelentzündungen, Rachitis, Brüche, Magenbeschwerden und andere Erkrankungen zu kümmern und ließ Medikamente vonAbdul aufschreiben, der sie in der Stadt besorgen sollte. Zwischenzeitlich wurde Abdul von seinem Sohn abgelöst, der zwar nicht Deutsch, aber dafür Englisch beherrschte.
Gegen Abend fuhr der Wagen, so beladen wie er gekommen war, unter einem wunderschönen Sternenhimmel wieder hinunter in die Stadt, die in einem gelblich diffusen Licht leuchtete. Jan wusch sich die Hände und schritt auf die Terrasse, wo die Frauen des Hauses und zu seinem Erstaunen auch Regina einen fürstlich gedeckten Tisch zubereitet hatten mit all den Leckereien, für die der Orient bekannt war: Mutabbal, wie Hummus ein Gemüsepüree, mit Auberginen und köstlich duftendem Sesamöl. Dazu gab es Burak, würzige, mit Hackfleisch und Käse gefüllte Teigrollen. Dazu Salate mit Roter Bete, Saucen aus Sesambutter und Tomaten mit Schafskäse.
Schon nach der Vorspeise waren er und Regina eigentlich satt.
Nun endlich wurde der Imam gesprächig und begann, von sich zu erzählen. Er hatte an der Berliner Humboldt-Universität zu DDR-Zeiten Orientalistik studiert. Ende der siebziger Jahre war er, vom maroden Sozialismus desillusioniert, zurückgekehrt und hatte, wie er sich ausdrückte, »die Schönheit und Vollkommenheit des Islams entdeckt« und sich von dieser Lehre abgewandt. In Kairo studierte er an der Al-Azhar-Universität. Dort lernte er seine Frau kennen, mehrere Jahre lehrte er dort auch, war Mitglied der Kommission der Ulema, der Vereinigung der islamischen Rechtsgelehrten.
»Ich habe den Wandel der dortigen Brüder zum Radikalen nicht verstehen dürfen, und so bin ich sozusagen als ›Pensionär‹ in meine Heimat zurückgekehrt.« Der Syrer liebte es, schwierige deutsche Worte zu benutzen. »Jetzt lehre ich hier auf dem Land, argwöhnisch, ein schönes deutsches Wort übrigens, überwacht von Damaskus.«
Irgendwo da draußen im Zwielicht der anbrechenden Nacht meckerte eine Ziege. Bislang hatte ihr Gastgeber mitkeiner Silbe gefragt, warum sie überhaupt hier waren. Die Zurückhaltung mochte an der arabischen Gastfreundlichkeit liegen. Dennoch fühlte Jan sich verpflichtet, zumindest die wichtigsten Fakten zu berichten. Der Imam schien ihm auf seltsame Weise vertrauenswürdig.
Jan blickte kurz zu Regina, die offensichtlich wusste, was er vorhatte, und unmerklich nickte.
»Abdul, wir möchten ehrlich sein und dich und deine Familie nicht gefährden«, begann Jan. »Gestattest du uns, dir den Hintergrund unserer Flucht zu schildern?«
Der Imam hob auffordernd die Hände.
Seine Frau räumte derweil ab, um die nächsten Gänge vorzubereiten. Die Hitze des Tages war gewichen, und ein kalter Wind ließ die kleinen Flammen der Kerzen in den kupfernen Behältern flackern. Fatima reichte Jan und Regina zwei warme Schafsdecken, der Sohn entzündete in einem Kessel trockene Holzscheite und warf etwas Weihrauchharz hinein.
Als Jan mit den Erzählungen über die Anschläge und der Begegnung mit dem Geheimdienstchef geendet hatte, schenkte der Imam sich Tee in sein kleines Glas. Er sah zu Regina, lächelte kurz und fragte: »Und was führt dich hierher?«
Regina erwiderte das Lächeln nicht, als sie zu erzählen begann. Sie wollte nicht zu viel preisgeben. Aber etwas in ihr sagte, dass sie dem alten Mann vertrauen konnte. »Ich bin auf der Spur einer vermissten Frau hier in Syrien. Sie stammt aus Österreich. Wir haben ihr Tagebuch und noch ein paar …«, sie sah fragend zu Jan, der müde nickte, »andere Gegenstände.« Sie griff in ihre Tasche und legte das Tagebuch auf ihren Schoß. Dann fasste sie noch einmal all ihre Erkenntnisse für den Imam zusammen.
»Ich bin Muslim und glaube fest daran, dass Allah, der Allmächtige und Große, uns alle in seiner Güte beschützt und führt. Dennoch weiß ich natürlich, dass die Menschen auch vor dem Islam an etwas geglaubt hatten. Vieles davonfinden wir in unseren Religionen heute wieder. Und immer wollen wir das Einzige, das Wahre haben.«
Jan verstand. »Sie denken nicht, dass es dieses Einzige, dieses Wahre gibt?«
Der Imam schüttelte den Kopf. »Nein, nach der Kolonialzeit haben wir alle geglaubt, dass die arabische Idee, die Vereinigung aller Länder dieser Sprache, unser Ziel sein könnte. Es endete in Zank und Streit. Dann, im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts, tauchte in den Medresen, also den Islamschulen und in den Moscheen, in den Armenvierteln
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