Der Lilith Code - Thriller
ist es kaum mehr zu ertragen. Die Wochen danach waren die Hölle. Ich war nicht mehr ich selbst. Bei einer Operation habe ich mittendrin aufhören müssen, weil ich völlig paralysiert war. Ich habe dann eine Auszeit genommen, fast fünf Monate nur in einer kleinen Wohnung verbracht. Mein einziges Glück war, dass ich des Geldes wegen nicht mehr arbeiten muss. Mein Vater hat als Schönheitschirurg genug für mehrere Generationen verdient.«
In einer hilflosen Geste legte Regina ihre große bandagierte Hand auf seine Hand.
Jan lächelte sie an. Leise sagte er: »Du und unser Abenteuer lenken mich ab.«
»Und du hast wieder als Arzt gearbeitet.«
»Ja, vielleicht sogar das erste Mal.«
Sie zerdrückte ihre Dose, schwang ihre Beine zurück auf die Terrasse und erschrak. Der Imam stand hinter ihnenund schaute die beiden aber überraschend sanft an. Regina hielt sich eine Hand vor dem Mund, um ihre Bierfahne zu verbergen.
Der Alte schmunzelte. »Was ihr mit eurem Leben macht, das Allah, der Allergütige, euch gegeben hat, müsst ihr wissen. Trinkt, was ihr wollt.« Regina errötete. »Ich habe mir das Tagebuch ein wenig vorgenommen. Aber jetzt bin ich zu müde. Morgen hat uns Allah, der Unermessliche, noch einen weiteren Tag geschenkt. Ich werde mich zwischen den Gebeten damit beschäftigen, wenn es euch nichts ausmacht. Dann lese ich auch dieses Schriftstück. Selbstverständlich bleiben die Exponate hier im Haus. Seid unsere Gäste, solange ihr wollt.« Er neigte den Kopf, und mit einer schwungvollen Geste drehte er sich zurück ins Haus und ließ die beiden zurück.
Als sich Regina in den ersten Stock begeben sollte, legte Jan ihr zart die Hand auf die Schulter. »Schlaf gut.«
In der Nacht träumte Jan schlecht. Insekten fielen über ihn her und drangen in seinen Körper ein. Er wachte schweißnass auf, schlief dann aber wieder ein und wurde erst am Morgen vom Lärm aus der Küche geweckt. Sie frühstückten mit Fatima und den zwei jüngsten Kindern des Imams, einer Tochter und einem Sohn, auf der Terrasse. Fatima und der Imam hatten sieben Kinder bekommen, die mittlerweile fast alle erwachsen waren und in ganz Syrien verstreut lebten. Nur Hatifa und Hassan wohnten noch im Haus ihrer Eltern. Hassan sollte in die Fußstapfen seines Vaters treten und ebenfalls Imam werden. Er lernte jeden Tag im Koran und, so seine stolze Mutter, beherrschte ihn fast auswendig. Das Ziel des Jungen war es, ein Hafiz zu werden, ein Beschützer des Korans, der den Koran und seine 114 Suren mit seinen über 6200 Versen auswendig aufsagen konnte. Hassan konnte, ähnlich wie sein Vater, stundenlang über die Schönheit seines Glaubens reden. Noch als seine Mutter die Reste des Frühstücks in die Küche brachte, sprach er mit Inbrunst über das für ihn soheilige Buch: »Der Koran wendet sich an alle Menschen, ohne Unterschied der Rassen, der Länder, ja selbst der Zeiten; er will die Menschen in allen Lebensbereichen geistig und zeitlich, einzeln und gemeinschaftlich führen. Er gibt Richtlinien für das persönliche Verhalten des Staatschefs sowie des einfachen Menschen, für Reich und Arm, für die Geisteskultur wie für den Handel und den materiellen Wohlstand.«
Regina schaute in das Gesicht des noch nicht einmal sechzehnjährigen Jungen, das bereits eine große Ernsthaftigkeit ausstrahlte.
Jan fragte: »Gibt er auch Richtlinien für junge Selbstmordattentäter?«
Der junge Syrer schien eine harte Antwort geben zu wollen, beherrschte sich aber. »Im Wesentlichen strebt der Koran danach, die Persönlichkeit des Einzelnen zu entwickeln. Was dann der Mensch damit macht, liegt nicht in der Verantwortung göttlicher Worte. Jedes Wesen soll persönlich seinem Schöpfer gegenüber verantwortlich sein; zu diesem Zweck gibt der Koran nicht nur Anordnungen, sondern er versucht auch zu überzeugen: Er wendet sich an die Vernunft des Menschen, er erzählt Geschichten, Parabeln, Gleichnisse. Aber eine Anleitung, sich in ein Haus mit einem Flugzeug zu stürzen, ist sicher nicht darunter. Sie reduzieren unseren Glauben auf den Wahnsinn Einzelner. Aber wenn Sie an den Islam denken, sollten Sie den weisen Kalifen oder den mystischen Derwisch der Sufis nicht vergessen. Es gibt einen Unterschied zwischen dem Islam und Islamisten, zwischen Glauben und Fanatismus. Oder möchten Sie, dass wir das Christentum auf die Bibelchristen aus den USA reduzieren, die die Evolution verneinen, oder auf fanatische Juden, die von einem israelischen Großreich
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