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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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treuen Heerscharen des kommunistischen Jugendverbandes ZMP Morgen für Morgen auf, hielt großartige Reden über den Neuen Menschen, rezitierte Gedichte und half ihrer Mutter bei der Arbeit auf dem Feld. In diesem anderen Tal musste die Welt dem Betrachter seitenverkehrt erscheinen, wie auf einem Negativbild, stellte sich Bartek vor, der schon viele Male dem Fotografen Po ś piech bei seiner Arbeit in der Dunkelkammer hatte assistieren dürfen. Das Schusterkind war fasziniert von den weißen Augen und den schwarz verkohlten Gesichtern auf den Negativen.
    Als er in Natalia Kwiatkowskas Wohnung trat, übermannte ihn die alte Müdigkeit und Schläfrigkeit, was fast immer geschah, wenn er die Stalinistin besuchte; er fühlte sich dann um etliche Jahre älter, um etliche Erfahrungen reicher – gleichzeitig senkte sich sein Kopf am runden Tisch in Natalias Wohnzimmer, seine Nase wurde länger in diesem schläfrigen Herabsenken und berührte fast den Rand des leeren Glases, in dem ihm der schwarze Tee von Jadwiga serviert wurde. Und während er meistens bereits nach wenigen Augenblicken einzuschlummern drohte, hielt die Stalinistin ihre ideologischen Reden, oder sie setzte den Franzosen nach einem mehrstündigen Spielmarathon schachmatt. Von seiner ehemaligen Geliebten ließ er sich gern besiegen.
    Nicht nur an Sonntagen musste man eine Uniform anziehen, das war auch die Meinung von Frau Natalia: Sie trug an diesem späten Dienstagabend ein rotes Kostüm und unter dem Jackett einen roten Rollkragenpullover. Ihre Mutter saß auf dem Sofa, sie saß dort schon seit etlichen Jahren, und niemand hatte gemerkt – außer dem Schusterkind −, dass sie dort schon jahrelang saß und das Sofa, ihren privaten Friedhof, nur verließ, um zum Beispiel ihrer Tochter oder einem Gast schwarzen Tee zu kochen. Und Natalia schien es nicht zu interessieren, dass ihre Mutter im Laufe der langen Winter zu einer halbblinden und -tauben Katze geworden war: zu einer Katzenmumie.
    Die nächste Runde Schach war in vollem Gange: Der Franzose beugte sich am runden Tisch über das Schachbrett, zog den Läufer nach »g 4« oder vielleicht auch woandershin und sagte zu seinem Enkel, ohne ihn dabei anzublicken: »Endlich bist du da, Schusterkind! Frau Natalia hat von deinem Aufsatz gehört – so schnell sprechen sich in unserem Städtchen Klatschgeschichten und Skandale herum. Sie hat in Tschossneks Frisiersalon angerufen, und ich war zum Glück da, als sie nach mir verlangte. Und nun habe ich mir erlaubt, Frau Natalia dein Polnischheft mit deiner kurzen Abhandlung über ihre Gedichte zu lesen zu geben, was du mir hoffentlich verzeihen magst! Mit anderen Worten: Frau Natalia hat dir so einiges zu sagen …«
    »Ach ja?«, staunte Bartek. Er betrachtete seinen Aufsatz als nicht existent – er hatte ihn im Geiste verbrannt und die Asche in der Schultoilette heruntergespült. »Frau Aquarell und Kolibri« wünschte er allerdings, sie möge in ihrem nächsten Leben als ein Schuster wiedergeboren werden. Oder wenigstens als Mariola oder die Hure Marzena.
    »Keine Bange«, sagte die Stalinistin. »Ich bin Lehrerin. Ich weiß, wie man mit Schülern umgehen muss. Streng, aber nicht allzu streng.«
    Bartek setzte sich zu seinem Opa Franzose, und als dem Schusterkind der schwarze Tee gebracht wurde − und auch ein Stück Käsekuchen mit Rosinen −, fielen ihm die Augenlider für wenige Sekunden fast zu; Bartek schrak plötzlich zusammen, als hätte ihm jemand von hinten einen kräftigen Rückenschlag versetzt, und blickte abwesend. Vor ihm breitete sich eine papierene Landschaft aus: Die zu Wolkenkratzern gestapelten Bücher und Zeitschriften wurden von engen Schluchten getrennt, die wiederum zu gigantischen Tälern und Halden führten. Wer las all diese Bücher und Zeitschriften? Jadwiga etwa? Natalias Schüler, denen sie in Physik Nachhilfe gab? Und die Palmenblätter, die Farne und die Orchideen, die Kakteen und die Sträucher hassten ihre gebildeten papierenen Mitbewohner und versuchten, sie aus dem Wohnzimmer zu vertreiben, indem sie jeden freien Winkel besetzten und in ihrem anarchistischen dschungelgrünen Wuchern keine Grenzen kannten.
    Frau Natalia nahm Platz in ihrem Lieblingssessel neben dem Ficus, blickte Bartek an und verkündete, eine Rede halten zu wollen. Oder war es wieder der Ficus, der diesen Wunsch geäußert hatte?
    »Ich habe deinen Aufsatz über meine Gedichte gelesen, Schusterkind«, begann sie. »Besonders begabt bist du nicht, nein,

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