Der Lippenstift meiner Mutter
viele Liebhaber, von denen ihr Mann und die zwei blonden Schwager nichts ahnten. Ja, die schwarzhaarigen Tanten, Stasias Schwestern, wüssten schon Bescheid, sie würden selbst fremdgehen. Und dann sagte die Krankenschwester, dass sie eines Tages reich heiraten und ihrem Mann bis ans Lebensende treu sein werde, doch davon, was echte Liebe sei, könne er, der dumme minderjährige Schüler, ein Onanist und Sohn einer Hure und eines Hurenbocks, noch nichts verstehen: er, das dumme Schusterkind. Sie verließ das Café und sprach ein halbes Jahr lang nicht mit Bartek, da sie sich von seiner Anfrage im Wenecja gekränkt fühlte.
Der Schnee wollte hier in Dolina Ró ż nur selten schmelzen − die Sonne war viel zu schwach gegen die Gerissenheit und die bittere Kälte des hiesigen Winters. Und Bartek und Norbert überquerten die wichtigste und größte Kreuzung ihres Städtchens, wo eben Marcins Wolkenkratzeraspirant mit dem Piracka in seinem trunkenen Bauch stand. Das Kino Zryw und das Wenecja ließen sie hinter sich − auf der rechten Seite breitete sich der riesige Defilierplatz aus, hinter ihm lag wiederum der Stadtpark, wo man spazieren und Volleyball und Tennis spielen konnte. Auf den Bänken dort saßen im Sommer betrunkene Männer, die die vorbeigehenden Frauen und Kinder mit vulgären Bemerkungen terrorisierten. In Barteks Augen waren sie keinen Pfifferling wert, wie sein Vater, der jeden dritten Tag schon am frühen Mittag stockbesoffen im Eingangsfoyer ihres orangefarbenen Wohnblocks lag und über dessen Körper die Nachbarn kopfschüttelnd stiegen, um zur Treppe zu gelangen. Keiner der Nachbarn half dem armen Mann auf die Beine, niemand machte sich die Mühe, seinen besinnungslosen Leib in eine Ecke zu bugsieren, damit der Durchgang frei würde. Bartek schämte sich für seinen Vater in Grund und Boden, wenn er von der Schule nach Hause kam und Krzysiek wieder sturzbetrunken im Eingangsfoyer lag. Zum Glück wohnten sie im zweiten Geschoss, denn Barteks Muskelkraft reichte nur für zwei Stockwerke, wenn er den Vater am Arm packte und die Treppe hochzerrte. Auf jeder Etage blieb Krzysiek stehen und sprach mit Geistern und Dämonen, beschimpfte seine Frau Stasia und Mutter Hilde und sagte zu seinem Sohn Dinge, die man eigentlich zu niemandem sagt, da sie die Seele eines Menschen vergiften und aufspießen, um sie überm Feuer zu braten. »Du Hurenkind! Was willst du von mir? Ich bringe dich um!« Und so ging es in einer Tour, bis sie endlich polternd in die Wohnung hereinstürzten – dann schmiss sich Barteks Vater auf ein Sofa, vollständig bekleidet, schlief sofort ein und schnarchte.
»Norbert!«, sagte Bartek. »Ich hoffe, du hast nichts dagegen, wenn wir uns ein bisschen mit meiner Meryl unterhalten – ich muss ihr doch sagen, dass mein Opa Franzose wieder da ist!«
Der Sohn von Herrn Lupicki lachte kurz und nahm seine Wollmütze ab, um nicht ein einziges Wort von Barteks Erzählung zu verpassen. Er trug in seinem Mund mindestens fünf oder sechs künstliche Zähne, die er seinem Vater zu verdanken hatte. Herr Lupicki wandte gegen Zahnschmerzen eine einfache Methode an. Er holte seine spitze Zange raus, entfernte damit den kranken Zahn, und Norbert musste anschließend zum Zahnarzt gehen, der sich ärgerte: »Dieser Mann – dein Vater − hat dein ganzes Gebiss ruiniert! Schuster, bleib bei deinen Leisten!«, beschwerte sich jedes Mal Doktor Pyszniak.
Auf dem Kreuzrittertor zeigte die Uhr schon seit Tagen ein und dieselbe Uhrzeit an: Sie war kaputt, der Stundenzeiger stand auf Fünf. Das mittelalterliche Tor hatte bei einem Brand zwei Geschwister verloren. Drei Tore insgesamt habe es früher einmal in Dolina Ró ż gegeben, die zu dem ostpreußischen Marktplatz mit den Kaufmannshäusern führten. Es war kaum zu glauben, dass sich vor noch gar nicht so langer Zeit ein paar Hitlerjungen in der Ratsapotheke Salpetersäure besorgt hatten, weil sie heimlich eine Bombe basteln und im Stadtwald, in der Nähe des Teufelsbergs und Goethe-Denkmals, zum Explodieren bringen wollten. In der ehemaligen Ratsapotheke konnte man jetzt Strumpfhosen und Damenunterwäsche kaufen. Und eines fernen Tages würde hier kein Stein auf dem anderen stehen, da alles, was von Menschenhand erfunden und erbaut wurde, auf die vollständige Vernichtung zusteuert. Das Weltall mag sich immer wieder erneuern, dachte Bartek manchmal, der Schnee freut sich auf seine Wiederkehr zu einem neuen Planeten, einem neuen Himmel, doch den Menschen
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