Der Lippenstift meiner Mutter
Zeitschriften, die sich auf dem Fußboden in allen freien Ecken türmten, zwischen all den Topfblumen und Kakteen. Natalias Imperium war in mehrere Kontinente aufgeteilt, auf denen die unterschiedlichsten Kulturen und Zivilisationen einander bekämpften. Die Bücher, von Glastüren geschützt, wollten mit den für sie hässlichen und brutalen Schlingund Rankgewächsen, deren Blätter ihnen die Sicht verdeckten, nichts zu tun haben. Die Zeitungen mit den Nekrologen, propagandistischen Reden und traurigen Berichten von dramatischen Ereignissen konkurrierten mit den bunten Illustrierten, die versuchten, den Leser mit utopischen Geschichten über das Goldene Zeitalter zu verführen. Und die teuren Kristallwaren schämten sich, dass sie so primitive und hässliche Geschöpfe wie Bücher oder Efeublumen zu Nachbarn hatten.
Natalia stand auf, begrüßte den Franzosen mit einem flüchtigen Händedruck und ließ sich von ihm auf die Wangen küssen. Sie schaute dann dem Schusterkind in die Augen und sprach gleichzeitig mit seinem Opa weiter: »Du hast deinen Enkel mitgebracht – du bist so feige wie all die anderen Bewohner von Dolina Ró ż . Sie benutzen ihre Kinder als Schutzschilde, wenn sie bei einer Behörde etwas Wichtiges erledigen müssen.«
»Und? Wofür ist dein Ressort zuständig?«, fragte der Franzose und lachte.
»Für die Zerstörung der Lügen, die in euren kalten Kirchen, Ämtern und Häusern wohnen – das weißt du doch!«, meinte sie. »Du kennst meine Biografie, und du weißt auch, was ich von eurer Welt und euren mickrigen Taten und Ideen halte. Oder hast du alles, was ich schon so oft erklärt habe, vergessen?«
»Nein, Liebste… Ich habe nichts vergessen…«
Dann trat eine Stille ein, die für Bartek genauso unerträglich war wie die festlichen Reden an den Appellmontagen in der Schule.
»Wenn ihr Hunger habt, müsst ihr in eine Gaststätte gehen«, sagte Natalia, da ihrem Freund keine Antwort auf ihre Vorwürfe eingefallen war. »Denn unser Kühlschrank und Herd haben nicht allzu viel zu bieten – außerdem leben wir bescheiden. Die Völlerei, die heutzutage überall wütet, finden wir widerlich und stumpfsinnig. Nicht wahr, Mütterchen?«
Wie zur Bestätigung zwinkerte Jadwiga mit den Augen und verschwand. Sie kochte schwarzen Tee, den sie aber in der Küche stehen ließ. Sie wollte, wie es schien, den Franzosen nicht bedienen. Die alte Frau schlurfte in aus Kaninchenfell genähten Hausschuhen durch die Dreizimmerwohnung hin und her; schließlich suchte sie sich im Wohnzimmer ein Plätzchen bei den großgewachsenen Farnen, im Schatten ihrer zarten Blätter ließ sie sich sanft auf einen Stuhl fallen und war sofort eingenickt wie eine Katze.
Natalia holte den Tee aus der Küche und sagte: »Es ist wohl dein letzter Besuch bei uns im Lunatal … Wir sind beide alt geworden. Alt und träge. Ja, irgendwann muss man sich verabschieden – für immer.«
»Ich bin aus einem anderen Grund zurückgekehrt…«
Bartek musste pinkeln, aber er traute sich nicht, auf die Toilette zu gehen. Im Stehen schüttete er zwei Löffel Zucker in sein Glas Tee und wartete gespannt auf die Erklärung von Opa Franzose, der ihn darum bat, er möge sich doch setzen, was sein Enkel auch sofort tat.
Der Franzose kramte aus seiner Aktentasche ein Porträtfoto hervor – das Bild eines Mädchens. Er legte es auf die ausgebreiteten Papiere auf dem Tisch und sagte: »Ich bin nach Hause zurückgekommen, weil ich in großen Schwierigkeiten stecke und dich um einen Rat bitten will.«
»Das ist mir nichts Neues«, antwortete Natalia. »Was ist das für ein Foto? Das Mädchen ist schön. Wer ist sie, die junge Dame? Muss man sie kennen?«
Bartek betrachtete verstohlen das schwarz-weiße Bild; im schwachen Licht einer Kugellampe, die tief über dem Tisch hing und summte, dieser private Mond Natalias, wirkten die riesigen Palmenblätter wie Flügel von längst ausgestorbenen urzeitlichen Vögeln. Meryl, dachte er, es ist unglaublich, aber du hast eine Schwester, die dir ebenbürtig ist und deiner unvergleichlichen Schönheit sehr nahe kommt. Ihm gefiel das unbekannte Mädchen sehr, und es musste in seinem Alter sein, vielleicht war es nur ein Jahr älter.
Opa Franzose setzte sich endlich hin und seufzte. Dann sagte er: »Es ist meine Tochter Joanna. Sie ist sechzehn und wird bald siebzehn. Ihre Mutter, die ich abgöttisch verehrt habe, wurde letztes Jahr schwer krank. Sie ist nun vor zwei Monaten gestorben, und ich weiß
Weitere Kostenlose Bücher