Der Lippenstift meiner Mutter
Lass dich einfach überraschen.«
Bartek konnte sich nicht vorstellen, mit seiner Vermutung falsch zu liegen. Hier in dieser Gegend, im Plattenbauquartier an der Luna, gab es eigentlich nur eine Frau, die als ehemalige Geliebte des Franzosen in Frage kam: Das orangefarbene Haus, dieser klassische Wohnblock mit vier Eingängen, war auch das Domizil der in ihrem Städtchen verfemten Natalia Kwiatkowska. In ihrer Erdgeschosswohnung, die Bartek bis jetzt nur wenige Male und stets für einen kurzen Augenblick besucht hatte, hingen immer noch Bilder von Stalin und von den pompösen Aufmärschen des kommunistischen Jugendverbandes ZMP . Natalia war eine pensionierte Physiklehrerin und hatte ihre Universitätszeit in Warschau verbracht. Als die Abrechnung mit Stalin und seinen Schergen begann, wurde sie nach Dolina Ró ż verbannt, in die für Warschauer entlegenste und in ihrer Hauptstädtervorstellung hilfsbedürftigste Provinz des Landes. Und die heutigen Bewohner von Dolina Ró ż beschuldigten Natalia, eine alte stalinistische Funktionärin, noch immer der Denunziation. Sie hätte mehrere Menschen auf dem Gewissen, behaupteten sie, den von ihr verratenen Kommilitonen und Kameraden hätten die stalinistischen Henker die Fingernägel ausgerissen, und so manch armes Schwein hätte die Foltern nicht überlebt. Doch niemand konnte diese Behauptungen beweisen − die einzigen Beweise, die jeder einsehen durfte, da sie in der Stadtbibliothek aufbewahrt wurden, waren Natalias Gedichte für Onkelchen Stalin, Hymnen auf den Erretter der von Kapitalisten und Faschisten gepeinigten Völker der Erde.
Natalia ging nicht in die Kirche und verließ so gut wie nie ihre Wohnung. Ihre achtzigjährige Mutter Jadwiga, die sich seit Jahren schon konsequent zu sprechen weigerte, erledigte sämtliche haushälterische Arbeiten − wie eine Bedienstete, die putzt, wäscht, kocht und einkauft.
Jadwiga litt sehr darunter, dass sie in einer Betonwüste leben musste. Als Bäuerin kannte sie nur Not und harte Arbeit auf dem Feld und im Schweinestall, doch sie vermisste diese Arbeit, weil sie die Weizenfelder, die Birkenhaine und den Fluss aus ihrem Dorf in Masowien über alles liebte. Natalia hatte Kühe auf einer Koppel und blühende Kirschbäume in einem Garten an die Wände des Zimmers, in dem ihre Mutter schlief, malen lassen, sozusagen zur heimlichen Versöhnung Jadwigas mit der Betonwüste. In diesem Raum war das Sonnenlicht ein seltener Gast, weil die Tochter panische Angst davor hatte, dass die alte Mutter an Hautkrebs erkranken könnte: Die Fenstervorhänge waren oft zugezogen, und die Achtzigjährige saß auf ihrem Bett, stumm und mit einem Blick, der keine Durchsetzungskraft mehr erkennen ließ. Jadwigas Augen tränten ständig, ihre Haut war runzelig und trocken, ihr Gesicht voller tiefer Furchen und Krater, und da sie von Natur aus einen schmächtigen Körperbau hatte und zudem kaum etwas aß, sah sie aus, als wäre sie am Verhungern. Man hätte Jadwiga in einem geräumigen Reisekoffer unterm Bett verstecken können, und ihr Gesicht mit den vielen tiefen Runzeln und der trockenen Haut erinnerte Bartek an die entstellten Fratzen der ägyptischen Mumien, die er im Fernsehen gesehen hatte.
Am merkwürdigsten war jedoch − weswegen die Bewohner von Dolina Ró ż Natalia Kwiatkowska wirklich hassten −, dass die ehemalige Physiklehrerin und Funktionärin des kommunistischen Jugendverbandes eine einzige Farbe für ihre Kleidung und Wohnungseinrichtung bevorzugte: Rot. Alle Röcke, Hemden, Blusen, Hosen und Pullover, die sie trug, waren rot, selbst Schuhe, Socken oder Mäntel und Jacken. Einmal im Monat besuchte Natalia den Friseur Tschossnek − Herrn Knoblauch. Tschossnek, der ihr die Haarspitzen höchstpersönlich schnitt, spielte dann mit seiner Kundin eine Runde Schach, was seine große Leidenschaft war, ja: seine Droge. Er spielte mit unzähligen Kunden, allerdings trat er besonders gern gegen Natalia an, da sie in Dolina Ró ż die Einzige war, die ihn zu schlagen vermochte: Ihre zwielichtige Vergangenheit interessierte Herrn Tschossnek nicht. Und wenn Natalia, ganz in Rot gekleidet, wieder einmal zum Friseur ging, liefen hinter ihr Kinder her, die sie auslachten und manchmal sogar bespuckten. Schtschurek führte meistens die wütende Bande an und beschimpfte die ehemalige Physiklehrerin: »Du Mörderin! Du Abschaum des Menschengeschlechts!« Solche wilden Verfolgungsjagden kamen außerdem auch dann vor, wenn sich ein Schwarzer
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