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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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nach Dolina Ró ż verirrte, zum Beispiel ein Student aus Ghana.
    Natalia Kwiatkowska erlaubte sich aber noch eine andere Merkwürdigkeit: In ihrer Wohnung gab es so viele Topfpflanzen − und manche davon stammten tatsächlich aus exotischen Ländern − wie in einem echten botanischen Garten. Den ganzen Tag war Natalia damit beschäftigt, die verschiedenen Gewächse zu pflegen, die Palmen und die Farne, die Kakteen und die Sträucher, die Blumen und die Kräuter. Auf den Fensterbänken wuchsen Thymian, Rosmarin, Minze, Petersilie und selbst Basilikum und Salbei. An den Wänden hingen Gefäße aus Terrakotta für Knoblauchknollen, für Moos und Heidekraut, für Rosen und Orchideen. Auf massiven Holzhockern residierten riesige Agaven und Farne, und Natalia sprach mit ihren stummen Mitbewohnern wie mit Menschen, und ab und zu stand sie am Küchenfenster mit einem Zettel in der Hand und las den Kräutern auf der Fensterbank mit so einer Andacht etwas vor, als würde sie einem Lehrling ein geheimes Kochrezept diktieren.
    »Bartek! Du wirst schweigen wie ein Grab«, meinte Opa Franzose. »Und wenn meine Freundin dich etwas fragen sollte, werde ich für dich antworten. Hast du kapiert?«
    »Sie ist verrückt, das weiß doch jeder!«, entgegnete das Schusterkind, das sich stillschweigend über die Erfüllung seiner Vorahnung freute. »Und sie hasst uns Schüler und Jungen. Ihrer Meinung nach sind wir nicht imstande, die Gesetze der Physik zu begreifen. Sie hat mir einmal gesagt, wir würden die wunderbaren und vollkommenen Gesetze der Physik und damit auch des ganzen Universums mit der uns angeborenen Dummheit und Ignoranz beleidigen. Und an unserer Schule, an der sie einst unterrichtet hat, erzählt man sich, sie hätte einmal mit einer Kollegin aus ihrem damaligen Lehrerkollegium ein richtiges Verhältnis gehabt − wie mit einem Mann! Das ist doch Degeneration!«
    »Was für ein Unsinn! Wer hat dir beigebracht, ein so übles und törichtes Gerede ernst zu nehmen?«, ärgerte sich Opa Franzose. »Du musst noch viel lernen!«
    Bartek wurde erneut wütend – diesmal aber verlor er die Beherrschung und legte barsch los: »Ich muss gar nichts lernen: Ihr seid die Dummen und die Ignoranten, und vor allem seid ihr alle krank! Ihr treibt es sogar mit Tieren und Leichen! Jawohl! Deine Töchter zum Beispiel – sie suchen sich in der Dancing-Bar Piracka die schönsten Hengste aus, und das Monat für Monat! Ich dagegen bin meiner Meryl treu!«
    »Nein, mein Schusterjunge! Du bist verwirrt und weißt nicht, was du redest. Du wirst ein Mann, und du brauchst endlich eine echte Frau fürs Bett – mehr kann ich im Moment dazu nicht sagen«, beruhigte ihn der Franzose.
    Die Kragen- und Ärmelsäume ihrer Mäntel waren vereist, sie selbst gänzlich durchgefroren, als sie den dritten Hauseingang betraten. Natalia Kwiatkowskas Türklingel war kaputt. Barteks Opa, der vor Freude auf die Begegnung über beide Backen strahlte, klopfte dreimal an die Tür, die dann sogleich aufging. Natalias Mutter ließ das ungleiche Paar nur zaghaft in den Flur herein und die Mäntel ablegen, schüttelte den Kopf und verdeckte kurz ihr Gesicht, dann faltete sie die Hände, als wollte sie ein kurzes Gebet sprechen und anschließend sagen: »Nacia! Mein Gott! Er ist wieder da! Dieser Teufel − dein Geliebter!«
    Sie führte die Besucher ins Wohnzimmer, in dem ihre Tochter geistesabwesend an einem runden Tisch saß – eine rote Wolldecke umhüllte ihren Körper, ihr hüftlanges, kastanienbraun gefärbtes Haar war wie immer zu einem Zopf geflochten, und auf dem Tisch waren verschiedene Papiere ausgebreitet, alte Dokumente und Briefe, vergilbte Zettel mit Notizen, Postkarten und Zeitungsausschnitte. Natalia hob endlich den Kopf und blickte die Gäste nachdenklich an. Sie war in das Studium der Papierberge so vertieft gewesen, dass sie lange Zeit brauchte, um zu verstehen, wer unerwartet in ihr Reich getreten war. Natalias Geistesgegenwart kehrte auf einmal zurück – sie sagte grinsend: »Deinen Mut muss ich wirklich bewundern, Franzose!«
    Bartek schwieg, wie es ihm sein Opa befohlen hatte. Er staunte über die Einrichtung der Wohnung, vor allem über die verschiedenen kristallenen Gläser, Schalen, Karaffen, Flaschen und Blumenvasen, die in den Bücherregalen und Vitrinen standen. Er fragte sich, warum er diesem gläsernen und kristallenen Reichtum bis jetzt nie Beachtung geschenkt hatte – genauso wenig wie den Stapeln mit Büchern, Zeitungen und

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