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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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Lieblingssongs aus dem Doppelalbum und Meisterwerk der psychedelischen Rockmusik »Ummagumma«. Er rauchte dabei eine Zigarette und sang zu den Musikstücken seine eigenen Texte, in einer Sprache, die er sich selbst ausdachte und die dem Englischen nachgeahmt war. Er nahm einen Schluck Bier und begrüßte freudig das tobende Publikum in der Küchenarena, in der seine Geliebte Meryl Streep auf der Ehrentribüne saß. Er fühlte sich wie ein Rockstar, ja, er war ein Rockstar, nur dass keiner, der in dem orangefarbenen Haus wohnte, ahnte, wer ihr Nachbar war, welches Genie der psychedelischen Rockmusik unter ihnen weilte. Die irdischen Götter küssten Bartek auf seine rot geschminkten Lippen und prophezeiten ihm, er würde eines Tages ein Weltstar werden.
    Das Doppelalbum »Ummagumma« hatte Bartek aus dem Radio aufgenommen − ausgerechnet bei Romek, der ihn einmal zu sich nach Hause eingeladen hatte, was eine absolute Ausnahme war; nicht einmal Anton war bei dieser Jamsession dabei gewesen, und Marcin wollte dem Schusterkind daraufhin fast die Freundschaft kündigen. »Ich kümmere mich um deine Bildung«, sagte er, »spiele dir die wertvollsten Perlen der Rockmusik und Klassik vor, und du Verräter, du gehst zu Romek, diesem Existenzialisten, der sich für den König der Philosophen hält! Wie konntest du mir das antun? Ich habe dir gezeigt, was man hören, lesen und anziehen muss! Und das ist dein Dank?«
    Für Bartek sah die ganze Sache anders aus: Marcin saß in einem Käfig wie ein wildes Tier und dachte ständig nur ans Fressen. Er war in seiner Gier unersättlich. Seine Schallplatten- und Bändersammlung musste die beste und größte in ganz Dolina Ró ż sein, genauso wie seine Bibliothek. Die künstliche Finsternis, die die Regierung in die Plattenbauquartiere und Häuser der Altstadt entsandte, um die Menschen einzuschüchtern, erweckte in ihm natürlich keine Furcht – in allen anderen ja. Er würde sich durch grenzenlosen Mut auszeichnen, meinte er selbstbewusst. Mit Mariola und der Hure Marzena würden ihn die intensivsten Liebesaffären verbinden, auf die sich die beiden Frauen je eingelassen hätten. Und die Halbwahrheiten, die in Form von Gebeten, Predigten, Appellen und Tiraden von den katholischen Pfarrern verbreitet würden, hätte er längst durchschaut. Er hielt die Religionen für eine äußerst praktische Erfindung von Außerirdischen, welche die Erde seit Millionen von Jahren besuchten und ausbeuteten; und der Tod sei eine gewaltige Illusion, in deren Gefangenschaft der Mensch derart an den Planeten Erde gebunden sei, dass er auf ihm ständig reinkarnieren müsse – damit sei der Homo sapiens ein Sklave der Erde, seine angebliche Freiheit samt dem freien Willen eine beispiellose Täuschung.
    Bartek fiel es schwer zu begreifen, dass Marcin, der so gebildet und erfahren war und der sich für jede Wissenschaft und Lehre interessierte − mochte sie auch unkonventionell sein −, kein eigenes Urteil besaß und die meisten Theorien für bare Münze nahm. Er plapperte unzählige Definitionen und Theorien nach, aber Tatsache war, dass er sich all die kühnen Gedanken, die er als seine eigenen deklarierte, durch mühsame Lektüre aneignete. Marcin musste Philosophen, Schamanen und Propheten zurate ziehen, weil er Angst vor dem Nichts hatte, das ihn aushöhlte und zu vernichten drohte, fand Bartek. Außerdem ängstigte sich sein Freund, ein unverbesserlicher Wiederkäuer, vor dem eigenen Tod, obwohl er bei jeder Gelegenheit die ewige Wiederkehr aller existierenden Dinge und Lebewesen predigte, wie es ihm Fryderyk Nietzsche beigebracht hätte.
    Und wenn das Schusterkind wieder einmal in der Küche tanzte, dachte es: Unser Planet hat schon so viele Wiederkäuer und Käfige, Zivilisationen und Schulen, Armeekasernen, Schusterwerkstätten und Fabriken auf seinem Rücken getragen und wieder abgeschüttelt, dass jeder Erdling aufhören sollte, sich Sorgen um die Zukunft zu machen. Schau, Marcin, der Lippenstift meiner Mutter hilft mir zu überleben – und die Angst vor der Zukunft frisst mich nicht auf. Ich schminke mir gerne die Lippen, weil ich ab und zu so aussehen und mich so fühlen will wie die Frau, die mich geboren hat, eine Frau, die jeden Morgen beim Make-up-Auftragen mit ihrem Handspiegel palavert und ihm ihre intimsten Geheimnisse anvertraut. Und die dann sagt: »Ich liebe es, die Fähnriche aus der Dancing-Bar und die Fabrikdirektoren zu verführen. Ich liebe es, wenn sich andere Frauen und

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