Der Lippenstift meiner Mutter
nicht, was ich mit Joanna machen soll. Zurzeit wohnt sie bei meinem Bruder, in Gda ń sk. Ich kann mich nicht um sie kümmern. Ich bin es als Eisenbahner und Reisender nicht gewohnt, zu Hause zu sitzen, Mittagessen zu kochen und Wäsche zu waschen. Ich bin pausenlos unterwegs, auch damit ich mein monatliches Gehalt kriege und später eine bessere Rente!«
Er wartete eine Weile auf die Reaktion seiner alten Geliebten, die ihn bloß mit ihren grauen, Kälte ausstrahlenden Augen ansah und die Stirn runzelte. Bartek ignorierte augenblicklich sein Versprechen, das er eben noch gegeben hatte, und platzte damit heraus, dass Oma Olcia das Gerücht, der Franzose habe im Süden eine neue Familie gegründet, schon seit Jahren fleißig verbreiten würde, und nun war es also wahr, was Olcia eifrig selbst vor ihren Freundinnen, mit denen sie sich nach der Sonntagsmesse im Wenecja traf, behauptete.
»Es ist also kein Gerücht!«, sagte Bartek. »Du bist ein Betrüger!«
Der Franzose schnäuzte sich die Nase. Seine Augen wurden feucht, das Stofftaschentuch steckte er aber wieder ein – die Tränen wischte er mit dem rechten Ärmel seines dunkelblauen Eisenbahnersakkos ab.
Natalia lachte plötzlich auf, aber ihr Lachen war das einer irrsinnigen und – einer höhnischen Frau. Ihre Mutter wurde für wenige Sekunden wach, dann schloss sie wieder die Augen, diese Katzenmumie.
»Man müsste dich vor Gericht bringen, Franzose«, sagte die ehemalige Physiklehrerin, nachdem sie sich beruhigt hatte. »Du bist kein geschiedener Mann und hast ein Kind mit einer fremden Frau gezeugt. Und dass auch ich einmal von dir schwanger geworden bin und unser Baby abgetrieben habe, hast du bestimmt verdrängt! Was für einen Ratschlag erwartest du von mir in Anbetracht so glasklarer Umstände? Gib dein Mädel zur Adoption frei! Oder steck es in ein Jugendheim! Töten wirst du es wohl nicht – dafür bist du zu feige!«
»Du wirst es nicht glauben, aber ich habe sogar daran gedacht, dich um Hilfe zu bitten! Du bist eine gute Lehrerin gewesen! Und Anstand und Ehre sind dir keine Fremdwörter, du bist nicht korrumpierbar…«
»Du elender Hund, du versuchst mir zu schmeicheln! In Wahrheit frotzelst du über mich!«, antwortete sie. »Ich soll diesen Bastard, den du vermutlich in einem Hühnerstall mit einer Bäuerin gezeugt hast, adoptieren und erziehen?! Schäm dich für deinen idiotischen Einfall! Geh doch zu deiner Katholikin Olcia, zu dieser Gottes- und Priesternärrin! Ihr kannst du ein so dämliches Angebot reinen Gewissens unterbreiten! Ein billiges Ölgemälde mit der barmherzigen Muttergottes wird ihr weinerlich zuflüstern, dass man sich seinem Schicksal fügen müsse. Und jetzt verlasst bitte mein Haus! Es ist spät, und ich habe noch viel zu tun! Meine Korrespondenz darf heute Nacht nicht unbeantwortet bleiben! Es sind wichtige Briefe!«
Bartek war über die Heftigkeit der Worte von Natalia Kwiatkowska erschüttert. Nicht geschieden? Ein fremdes Kind? Ein Bastard? Eine Abtreibung? Was geht hier vor?, fragte er sich. Und dachte zugleich: Das ist also der zweite Grund für deine Rückkehr, Franzose – du suchst eine Mutter für deine hübsche Tochter! Du willst das arme Küken so schnell wie möglich loswerden und davonfliegen! Diese Methode kommt mir irgendwie bekannt vor …
Auf einmal ging in der ganzen Wohnung das Licht aus, doch auch in den gegenüberliegenden Wohnblöcken war das Licht erloschen. Für eine Weile wurde es stockfinster, sodass Bartek zu frieren begann. Die Regierung hatte wieder einmal den Strom abgeschaltet, und in den nächsten zwei Stunden würde Dolina Ró ż in einen traumlosen Abgrund taumeln, in dem es keinen Boden und keinen Himmel gab. Bartek fürchtete sich vor dieser Finsternis, er fürchtete sich so sehr vor ihr, dass er sich jedes Mal schwor, er würde am nächsten Tag in die Kirche gehen, auf die Knie fallen und um Gnade der Sonne bitten. Er tat es jedoch nie, weil ihm dazu der Mut fehlte. Er wollte von Schtschurek, Marcin, Romek und Anton nicht ausgelacht werden.
Natalia Kwiatkowska brach wieder in ein unerträgliches, fast männlich klingendes Gelächter aus und zündete eine Kerze an.
Kapitel 6: Der Lippenstift meiner Mutter
Manchmal, wenn das Schusterkind zu Hause allein war, ging es ins Badezimmer und schminkte sich die Lippen. Hinterher stellte es den Ghettoblaster, den sein Vater von einer Reise in die BRD mitgebracht hatte, auf volle Lautstärke. Bartek tanzte dann in der Küche zu seinen
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