Der Lippenstift meiner Mutter
fällte über seinen Freund auch kein vernichtendes Urteil. Er sagte: »Du bist kein Saboteur, sondern ein liebenswerter Narr und Kauz, der sich bloß amüsieren will.«
Antons Vater war Direktor der Möbelfabrik von Dolina Ró ż . Die masurischen Wälder produzierten fleißig Holz für die sozialistischen Möbel, ja, sie spuckten Möbel aus wie ein Automat. Und obwohl sich Antons Vater zur marxistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung bekannte, war er in Dolina Ró ż ein angesehener Bürger, über den so gut wie niemand ein böses Wort verlor. Er kümmerte sich um die Sorgen und Nöte seiner Arbeiter und versuchte, zwischen der neuen Gewerkschaft und der Partei friedensstiftend zu vermitteln. Er überlebte zwei Herzinfarkte, die er nach der Einführung des Kriegsrechts bekommen hatte. »Unser Land geht vor die Hunde«, jammerte er seitdem.
Der Streit zwischen Bartek und Anton um die kaputten Türschlösser und Barteks Sabotageakte wiederholte sich später in regelmäßigen Abständen, doch am Ende warf sich das Schusterkind immer seinem Freund in die Arme und entschuldigte sich überschwänglich für sein aggressives und mieses Verhalten.
»Manchmal denke ich, du bist ein Mädchen …«, quittierte Anton mit einem Grinsen Barteks Entschuldigung.
Zum Glück passierte an diesem Dienstag kein Unfall, meistens zog sich ein Schüler an den Fingern oder Armen eine Schnittwunde zu, die vom Ausbilder auf der Krankenstation behandelt wurde. Das Schusterkind hatte es einmal sogar geschafft, einen der Ausbilder zu verletzen, und zwar mit einer halbrunden zugespitzten Feile. Zum Glück traf sie nicht das Auge, sondern die Stirn des Ausbilders, der Bartek ein paar gute Tipps zum Schärfen von Bohrern hatte erteilen wollen. Die Feile saß locker im Holzgriff, und eine heftige Gebärde im Stile eines Messerwerfers reichte, um sie zum Fliegen zu bringen − dann konnte sie zu einem gefährlichen Geschoss werden.
Das Schusterkind verbrannte an jenem verhängnisvollen Tag, an dem der Unfall mit dem Ausbilder passiert war, seine Ho-Chi-Minh-Uniform, mehr oder weniger aus Wut auf seine eigene Dummheit, obwohl der böse Schutzengel in ihm für seine Tat nur Lobesworte fand. Bartek besorgte sich damals innerhalb von vierundzwanzig Stunden neue Arbeitskleidung, weil er am Samstag wieder zur Strafarbeit antreten musste.
Und da es Bartek schien, dass seit der Rückkehr des Franzosen die Uhren und Herzen von Dolina Ró ż in einem unbekanntem Rhythmus schlügen, beschloss er, etwas Ungewöhnliches zu tun. Nach dem praktischen Unterricht, der um drei Uhr endete, wollte er in die St.-Johann-Kirche am Marktplatz pilgern und um Vergebung beten: Vergebung für Opa Franzose und für die bösen Schutzengel, die wie aus heiterem Himmel auf die Erde fallen und Menschen bedrängen könnten; schließlich wollte er um Vergebung für die Stalinistin Natalia Kwiatkowska beten, und für den Atheisten Anton und für Meryl Streep, die so eitel war, dass sie sich in Dolina Ró ż nicht materialisieren wollte, um mit dem in sie verliebten Jungen auf die Straße zu gehen, an seiner Seite voller Freude und Stolz zu spazieren, damit selbst Herr Lupicki hätte sagen können: »Schaut! Er hat uns nicht angelogen! Er ist wirklich mit der berühmten Schauspielerin zusammen!«
Anton war ein wenig verwundert und sogar ein bisschen verärgert, als er erfuhr, dass das Schusterkind der St.-Johann-Kirche einen kurzen Besuch abstatten wollte.
»Ich werde draußen auf dich warten. Ich gehe da erst gar nicht rein!«, sagte er. »Ich will nicht, dass die Pfaffen mich für ihre Sache einspannen wie ein Zugtier – angeblich im Namen von Jesus und Maria.«
»Wie du willst!«
Bartek dachte, dass man sich wenigstens einmal im Monat von aller Schlechtigkeit, die an einem klebte wie Herrn Lupickis Schuhleim budapren , reinwaschen sollte. Dieser Wunsch nach einer geregelten Reinigung sämtlicher Hosentaschen und Schlupfwinkel des eigenen Gewissens war ihm aus der Zeit geblieben, als er Ministrant hatte werden wollen, nachdem er den unsichtbaren Liebesbrief von Herrn Jesus Christus erhalten hatte. Und Oma Olcia betete nie nur für sich selbst, um Gesundheit oder eine bessere Zukunft, sondern immer auch um das Wohl der anderen; sie betete für ihre schwarzhaarigen Töchter und blonden Schwiegersöhne, für die Enkel und selbst für den Franzosen, Gott möge ihm gnädig sein, und für die Stalinistin Natalia Kwiatkowska betete sie. Sie habe schon oft erlebt, vor allem
Weitere Kostenlose Bücher