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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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heißer Milch, wie im Jugendgefängnis. Bartek schmeckte die bescheidene Mahlzeit seltsamerweise hervorragend, er freute sich den ganzen Morgen auf die Mittagspause und auf die Milch und das Brötchen. Für diese Freude gab es jedoch noch einen anderen Grund. Er konnte in den kurzen dreißig Minuten der Mittagspause seine wilden Tänze aus Neuguinea vorführen, die seine Mitschüler zum Lachen brachten, manchmal auch zum verständnislosen und verzweifelten Kopfschütteln, und zwar besonders dann, wenn sich das Schusterkind im Speisesaal auf dem Fußboden hin und her wälzte und dabei unverständliche Wörter in die Welt hinaus brüllte, Wörter, die bedrohlich und böse klingen sollten, was Bartek selten gelang. Wurde er bei seinen tobsüchtigen Tänzen von einem der Lehrer erwischt, bekam er eine harte Strafe: Am Samstag musste er erneut zum praktischen Unterricht antreten und die Drehmaschinen blitzeblank putzen. Und vielleicht waren diese Strafmaßnahmen die Ursache dafür, dass er die fertigen Türschlösser, die die Prüfung bestanden hatten und zum Verkauf freigegeben worden waren, aus dem Werkstattlager stahl, um sie in einer dunklen Ecke kaputtzumachen. Es bereitete ihm in diesem Moment großen Spaß, anderen Menschen Schaden zuzufügen. Es kam sogar vor, dass einer seiner Mitschüler für seine Arbeit schlecht benotet wurde, weil Bartek das Innere des Türschlosses mit einem einzigen Hammerschlag zerstört hatte: kurz vor der Vorlage zur Prüfung beim Ausbilder, in einem passenden Augenblick, in dem er nicht erwischt werden konnte.
    »Warum tust du das?«, fragte Anton, dem er einmal von seiner Zerstörungswut erzählt hatte.
    »Es ist meine verdammte Pflicht!«, wehrte sich das Schusterkind. »Hast du noch nie Liebesbriefe an deine Erzfeinde geschrieben?«
    Bartek sagte nicht die Wahrheit − er wollte eine Antwort geben, die Antons Vorstellung von der Ordnung der Dinge entsprach. Andere Antworten akzeptierte sein Freund nicht, weil er an unsichtbare, von Chaos und Zerstörung geschaffene und beherrschte Welten genauso wenig glaubte wie an die Kreuzigung und Auferstehung Jesu Christi oder an UFOS . Bartek beneidete seinen Freund sogar, da in Antons Universum jedes Ding so hieß, wie es aussah: Ein Stein war ein Stein, eine Nähnadel eine Nähnadel, und der Mond schien wie der Mond und nicht wie die Sonne, deren aufgedunsenes Gesicht Sommer für Sommer in Siegerpose erstrahlte. An den Teufel, der sich seinem Opfer am liebsten als Schutzengel ausgab, glaubte Anton natürlich auch nicht, und Barteks wilde Tänze aus Neuguinea, die ihn und andere Mitschüler aus ihrer Klasse in der Mittagspause erheiterten, interpretierte er nicht als einen Akt der Verzweiflung, sondern als gute Unterhaltung − als sähe er eine lustige Fernsehsendung.
    »Genosse! Die Feinde sitzen woanders, in ganz anderen Schutzgräben – du attackierst bloß unsere Leidensgefährten!«, antwortete Anton.
    »Das musst du gerade sagen! Guck dir deine Eltern an! Sie sind in der Partei, sie regieren unsere Stadt, sie warten darauf, dass von den Schulen ständig neuer Nachschub kommt, damit sie ihre Fabriken am Laufen halten können. Nein, da will ich lieber ein Saboteur sein! Und du solltest mich dabei unterstützen!«
    Es machte Bartek Spaß, sich als Revolutionär zu stilisieren. So sprach durch ihn der böse Schutzengel, der vom Teufel gesteuert wurde, ganz anders jedoch als Schtschurek. Der wusste nicht, was er tat und was mit ihm geschah, wenn er jemanden verprügelte oder beschimpfte, meist solche Jungen, die schwächer und dümmer waren als er selbst. Bei Bartek war das so: Es gefiel ihm, die unsichtbare Energie des bösen Schutzengels, die Dunkle Materie, für sich bewusst zu nutzen, und er musste sich bremsen, weil er nicht in die Fußstapfen irgendeiner Ratte treten wollte. Das Bewusstsein zu haben, dass man anderen Menschen Böses, nein, Grauenvolles antun konnte, fand Bartek äußerst erregend, weil ihm diese ungeheure Möglichkeit ein Machtgefühl verlieh, das genauso gewaltig war wie die Sehnsucht nach seinem Traummädchen Meryl Streep. Liebe und Hass kommen eigentlich aus der gleichen Quelle, freute er sich über seine Erkenntnis. Da er aber vor sich selbst und seinem bösen Schutzengel Angst hatte, wurde ihm schon früh klar, dass er den allerletzten Schritt, der in die Hölle auf Erden führte, nie tun würde, nein, ein Mörder wie Stalin zum Beispiel konnte er nicht werden.
    Anton ließ sich vom Schusterkind nicht beirren und

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