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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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huschen wollte, war wieder auferstanden. In ihrer Erinnerung war er unter dicken Schichten des Hasses begraben, da sie sich alle von ihm verraten fühlten. Der Einzige, der dem Heimkehrer wohlgesinnt zu sein schien, war Herr Lupicki, und Bartek hatte sich noch nicht entschieden bezüglich seiner Gefühle: Hassen oder lieben? − das war für ihn die Frage; die Schachpartie hatte für Bartek erst gerade begonnen. Sollte er eine Briefmarke dem Lippenstift seiner Mutter vorziehen? Nee, eigentlich nicht, dachte er sich.
    Barteks Opa sagte, er habe nach seiner gestrigen Erzählung über die Perle und den verlorenen Sohn kurz vor dem Einschlafen noch ein paar Sätze sagen wollen, vor Müdigkeit sei er dann doch in jähen und tiefen Schlaf gefallen. Das Schusterkind meinte jedoch, es müsse sich beeilen, es habe heute so viel zu tun wie schon lange nicht mehr. Es redete wirres Zeug: »Meine Schulbücher, ich habe sie vergessen – weißt du; und Oma Hilde und der deutsche Spion aus Amerika warten auf mich – weißt du; und der Sportunterricht – der hässliche Sportunterricht, zu dem ich immer zu spät komme. Und meine Klassenkameraden – die schauen mich im Umkleideraum unserer Turnhalle immer so komisch an, als wäre ich ein Mädchen. Die Lippenstifte ihrer Mütter sind klein und böse und stinken! Meine Klassenkameraden lachen mich beim Sport aus, sie lachen über meine schmalen Schultern und darüber, dass ich das Bockspringen mit gegrätschten Beinen nicht kann!«
    »Ist schon gut! Beruhige dich! Ich werde dich in spätestens zwei Minuten in die Freiheit entlassen«, sagte der Franzose. »Ich unterscheide drei Kategorien von Menschen, und ich will sie dir eben jetzt zu dieser frühen Stunde ganz kurz beschreiben und erklären, damit du dann den ganzen Tag darüber nachdenken kannst … In aller Ruhe … Und was ich dir zu sagen habe, wirst du in der Schule nicht zu hören kriegen …«
    Und der Franzose erklärte die drei Kategorien: »Die erste Gruppe bilden sogenannte Fleischmenschen, die nicht wissen, dass sie Sklaven der Materie und des Todes sind – die Hauptmerkmale ihrer Existenz sind das Chaos und die Zerstörung. Die zweite Gruppe sind die Psychiker – dieser Typus ist meistens unglücklich und verzweifelt, aber wenigstens wissen die Psychiker, dass in der vom Tod beherrschten Welt die Liebe zwischen Mann und Frau Balsam für ihre Herzen ist; allerdings verwickeln sie sich in unendliche Spekulationen über Sinn und Zweck ihres Daseins und ihrer Beziehungen untereinander, was wiederum dazu führt, dass die Psychiker sehr rechthaberische und stolze Wesen sind; ihre Überheblichkeit macht sie blind, und somit halten sie sich samt ihren Taten und Werken für die Krone der Schöpfung. Zu der dritten Gruppe gehören die Seelenmenschen. Sie sind unsterblich, denn in ihrer Welt gibt es weder das Gute noch das Böse, sondern nur das Gesetz der Notwendigkeit, weil sich jedes Schicksal erfüllen, jede Seele nach ihrem eigenen Gutdünken leben und sich entfalten muss. Die Seelenmenschen sind aber jederzeit zu Opfern bereit und kümmern sich nur um das Wohl ihrer Nächsten.«
    »Und wer bist du?«, fragte Bartek.
    »Leider ein Psychiker … Ich finde keinen Halt in meinem Kreis, in dem ich lebe. Mir fällt es schwer, an Notwendigkeiten und an die Erfüllung einer Bestimmung zu glauben. Und Gott gibt es nicht – nicht für mich und nicht so, wie es die Kirche uns vormacht.«
    »Dann will ich zu den Fleischmenschen gehören, zu der ersten Kategorie«, ärgerte sich Bartek.
    »Du willst doch aus Dolina Ró ż weggehen …«
    »Ja, das will ich, aber ich kann nicht sagen, wann genau! Heute bin ich ein glücklicher Bewohner von Dolina Ró ż . Ich liebe meine Meryl Streep, die mich braucht, und ich kann mich jederzeit mit ihr unterhalten, wenn ich sie mal brauche. Aber was weißt du schon von Glück, von Sehnsucht und Liebe und Freiheit? Nächsten Sommer werde ich zum Beispiel mit meinen Freunden wieder auf eine Segeltour durch die großen masurischen Seen gehen. Wir werden wie üblich Äpfel und Kartoffeln von den Bauern stehlen, am Abend Bier trinken und am Lagefeuer unsere Musik hören – das ist für mich Freiheit! Nur, wozu erkläre ich dir das – du wirst sowieso nicht kapieren, was ich meine …«
    Bartek war auf seinen Opa richtig wütend: Er hatte das mulmige Gefühl, dass es sich bei den Ausführungen des Franzosen lediglich um einen üblen Missionsauftrag handelte, und dieses Phänomen der

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