Der Lippenstift meiner Mutter
Gedankenbeeinflussung kannte Bartek zur Genüge von seiner Schule. Die Philosophie des Franzosen gefiel Bartek jedenfalls überhaupt nicht. Er wusste zum Beispiel, was er in Dolina Ró ż , seinem Geburtsstädtchen, gerne ändern würde, und Anton und vielleicht sogar Marcin und Romek könnte er als Soldaten gut gebrauchen. Doch ihm waren die Hände gebunden, er musste die Überschwemmungen, die sein Vater tagtäglich verursachte, ertragen; er musste bei seinen Eltern wohnen und das Mechanische Technikum besuchen, an dem er nutzloses Wissen über die verschiedenen metallurgischen Techniken erwerben sollte. Der Metallurgie-Unterricht schien dem Schusterkind genauso unsinnig zu sein wie der Katechismus oder der Sport, der den sozialistischen Geist stärken sollte. Und die Pfarrer und die Katechetinnen trainierten die Schüler einzig für die Befriedigung ihrer pädagogischen Gelüste, aber bestimmt nicht − so kam es zumindest Bartek vor −, um die jungen Seelen zu erlösen; diesbezüglich dachte er auch noch Folgendes: Aus Eisen, aus verzweifelten Gebeten und aus strammen Muskeln wollen sie uns formen, in ihre Gussformen füllen und später wie Skulpturen in ihren Kirchen, Ämtern und Fabriken aufstellen − aber nicht mit mir, nicht mit uns, so nicht! Plötzlich bekam er Zweifel, was seine Kritik an Marcins »Unde malum«-Aktion anging. Vielleicht hat dieser Hundsfott, skurwysyn , doch Recht, vielleicht müssen wir sie wenigstens einmal – ein einziges Mal − erschrecken, nur so ein bisschen erschrecken; wir können doch nicht alle abhauen wie der Franzose, zumal der Schnee bald wieder schmelzen wird; der Sommer kommt zurück, er wird am Firmament erstrahlen, und wir werden von ihm für unsere Geduld fürstlich belohnt − wie jedes Mal, wenn wir an einem See zelten, um am folgenden Morgen die Segeltour fortzusetzen: auf den nackten Rücken unserer Mädchen wird die Sonne brennen!
Bartek bedankte sich bei dem Franzosen nicht einmal für dessen Vortrag, er schnappte sich die Brote, die ihm Oma Olcia am Abend zuvor geschmiert hatte, schnappte sich seinen Wintermantel und eilte auf die Straße.
Anstatt mich danach zu fragen, dachte er, wie es mir in der Schule geht, welche Noten ich habe, bombardiert er mich mit seinen eigenbrötlerischen Weisheiten, dieser Feigling, der von uns abgehauen ist!
Als Bartek zu Hause ankam, wurde er von seinen Eltern begrüßt: Er möge noch schnell zum Lebensmittelladen laufen und Milch und Brötchen kaufen. Nachdem er ihre Bitte im Eiltempo erfüllt hatte, verloren die Eltern das Interesse an ihrem Sohn, sie ächzten nur − wie jeden Morgen −, sie hätten es im Leben so schwer – so schwer …
Bartek machte sich schleunigst ans Packen, und da er am nächsten Morgen wieder Sport hatte, musste er auch seine Turnsachen mitnehmen, die Boxershorts und die Turnschuhe, die ihm Oma Hilde geschenkt hatte – aus einem BRD -Paket − und deren Spitzen er mit Watte vollstopfte, weil sie ihm zwei Nummern zu groß waren. Fast alle Männer von Dolina Ró ż kauften sich ihre Schuhe eine Nummer größer, auch die drei blonden Schwager taten es. Sie wollten ihren Frauen und vor allen Dingen ihren Arbeitskollegen beweisen, dass sie keine Schwuchteln und Schwächlinge waren. Dabei hatten die Lippenstifte ihrer Mütter und Frauen das Sagen. Sie drangen Tag für Tag in ihre Hirne und Herzen ein und befruchteten sie. Doch die Früchte, die die Männer später gebaren, waren lebensuntauglich, da ihre Erzeuger keinen starken Willen hatten und eine Erlösung und ein Vorankommen in ihrer Imagination nicht in Sicht waren, weder für ihre Familien noch für den sozialistischen Staat, für den sie keine Verantwortung tragen wollten. Sie waren allzu sehr mit ihren Liebschaften und Affären, mit den Streiks im Namen der neuen unabhängigen Gewerkschaft und mit den verschiedenen Feiern in ihren Betrieben und Kasernen beschäftigt, als dass sie andere Himmelszeichen hätten sehen und erkennen können; sie begriffen nicht die Liebesbotschaft der kalten süßen Lippenstifte, die selbst von der Heiligen Maria in der Kirche benutzt wurden und auch von ihrem gekreuzigten Sohn: Seine Lippen bluteten doch von morgens bis abends, vor allen Dingen dann, wenn sie bei der Mundkommunion ein Kind küssten. »Leib Christi!«, sagte der Pfarrer J ę drusik im Namen dieser verletzten heiligen Lippen, wenn er dem Schusterkind und anderen Kindern die Hostie auf die Zunge legte.
Barteks Vater verhörte in der Küche gerade
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