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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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Schusterkind die ganze Zeit nach oben zu den Sternen hinaufgeschaut, sodass es der Nacken schmerzte. Der Schnee glitzerte blau, seine vereiste Oberfläche zersplitterte unter den Schuhen wie Glas, das mittelalterliche Tor, dessen Mauern jeden Tag auf Augenhöhe mit Todesanzeigen beklebt wurden, und die Einkaufsläden am Marktplatz bereiteten sich schon auf den Morgen vor.
    Opa Franzose, dem Olcia erst nach langem Klingeln die Tür geöffnet hatte, war dann sofort ins Badezimmer geeilt, um am Thermometer die Außentemperatur abzulesen: »Das Glas ist geplatzt, das Quecksilber ausgelaufen!«, rief er verwundert. Olcia war sauer, ihr Gesicht, das sie jeden Abend mit einer speziellen Nachtcreme einrieb, glühte: »Ihr Vagabunden! Ab ins Bett mit euch! Ich musste sogar meinen Kachelofen noch einmal mit Kohle füttern, damit ihr mir nicht erfriert, und ihr treibt euch die ganze Nacht mit den Teufeln herum! Ihr Lumpen!«
    Am Morgen schien die Sonne, nach wochenlanger Abstinenz genossen die Bewohner des Städtchens die Bläue, die sich überall ergoss und freudig vermehrte. Es war zwar weiterhin bitterkalt, aber es schneite nicht mehr, die Wolken und der Nebel waren verschwunden − für die Party im Warteraum des Yachtclubs konnte man sich kein besseres Wetter wünschen.
    Oma Olcia nahm die Neuigkeiten des Franzosen gleichgültig auf. Sie spielte in der Küche ihre eigene Musik. Sie sprach mit ihren Kochtöpfen und Weckgläsern, mit ihrem Kohleherd und dem Sauerkrautfass im Badezimmer. Sie kochte das Mittagessen, der Franzose lag im Wohnzimmer auf dem Sofa, las ein Buch und hielt ab und zu eine kurze Predigt, die sich Bartek schmunzelnd anhörte. Aber dem Schusterkind konnte Oma Olcia nichts vormachen, sie war auf die Stalinistin eifersüchtig. Sie würde ihr am liebsten die Augen ausstechen, und es war klar, dass Olcia bald nur noch ein einziges Gesprächsthema haben würde: Der geplante Umzug der unehelichen Tochter des Franzosen aus Gda ń sk nach Dolina Ró ż und die Tatsache, dass sie bei Natalia Kwiatkowska wohnen sollte.
    Bartek schrieb seinen Aufsatz über die Gedichte der Stalinistin lesbar ab, da er noch vor dem Abendtermin am städtischen Baggersee zu Marcin gehen und ihn um eine Korrektur seiner Arbeit bitten wollte. Er las seinen Text Opa Franzose vor, der dem Schusterkind sogar einiges Talent attestierte. Allerdings gefielen ihm die Gedichte seiner einstigen Geliebten gar nicht. Er bezeichnete sie als schwülstigen Wortbrei einer exaltierten Funktionärin und Aktivistin des kommunistischen Jugendverbandes ZMP .
    »Frau Natalia will dir helfen«, sagte Bartek, der über die harte Kritik seines Opas verärgert war, »sie bietet deiner Tochter Obdach, Speise und Trank an – im Übrigen hast du ihr Angebot weder abgelehnt noch angenommen, weshalb meine Mutter die Entscheidung für dich getroffen hat −, und du ziehst deine ehemalige Geliebte durch den Dreck … Das muss mir einer erklären!«
    »Meine Worte richten sich nicht gegen sie, sondern gegen ihr lyrisches Werk«, protestierte der Franzose. »das genauso unklug ist wie ihre gestrige Rede über den Neuen Menschen – am Rad der Zeit zu drehen und bestimmte Ereignisse und Entwicklungen zu beschleunigen, war noch nie die Stärke der Menschheit. Und ich kenne noch eine andere ältere dichtende Dame, die auch so fanatisch in Onkelchen Stalin verliebt gewesen war – heute will sie davon nichts mehr wissen. Damals war das eine richtige Seuche gewesen, diese Liebeserklärungen an den Halbgott – Stalin hatte unzählige Verehrerinnen, während andere ins Gefängnis wanderten, wie zum Beispiel der Vorgesetzte deines Vaters, Herr Oblomski, der das Personalbüro in Szutkowskis Textilfabrik leitet.«
    In der Tat, Bartek kannte die Geschichte von Herrn Oblomski. Krzysieks Vorgesetzter hatte zwei Kreise der Hölle überlebt: das KZ der Nazis und den Gulag. Nach der Befreiung des KZ durch die Sowjets war er bei ihnen in den Verdacht geraten, ein Trotzkist zu sein, und schon verwandelten sich die Befreier in Henker. Anschließend saß er ein paar Jahre in Polen im Gefängnis – diesmal auf Empfehlung der Stalinisten. Seine Vergangenheit − die des Soldaten der Landesarmee AK − lastete auf ihm wie ein Fluch, und er sagte über sich selbst, er müsse Gott − dem Barmherzigen – für seine Rettung und Verschonung jeden Tag danken, denn genauso gut hätte er 1940 in Katy ń hingerichtet werden können; ein törichter Zufall habe ihm das Leben gerettet.

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