Der Lippenstift meiner Mutter
Erstaunlicherweise machte er weder den Deutschen noch den Russen irgendwelche Vorwürfe, wenn man ihn auf jene Zeiten und die harten Schicksalsprüfungen ansprach.
»Hätten mich die Sowjets gefangengenommen, damals im Frühjahr neunzehnhundertvierzig, säße ich hier nicht vor dir«, fuhr der Franzose fort. »Und was die schwierige Entscheidung bezüglich Joannas Zukunft betrifft – eine Entscheidung, die deine Mutter angeblich in meinem Namen getroffen hat −, so sage ich dir, dass du bei deiner Urteilsbildung ein großer Meister der Voreiligkeit bist! Mit anderen Worten: Du musst noch viel lernen …«
Der Franzose hatte sichtlich Freude an seinen pädagogischen Ausführungen. Bartek etwas weniger, aber er verzieh seinem Opa seine erzieherischen Anwandlungen. Er wollte dem Franzosen das Gefühl vermitteln: »Es ist gut, dass du zu uns zurückgekommen bist – ich kann von dir tatsächlich noch viel lernen!«
Der Aufsatz über die Gedichte der Stalinistin war fertig, und Bartek musste seinen Freund Marcin besuchen, um ihm die Arbeit zur Korrektur zu geben. Nach dem Mittagessen machte sich das Schusterkind auf den Weg zu dem einzigen Wolkenkratzeraspiranten des Städtchens. Die Sonne regierte in Dolina Ró ż und zerriss sich das Maul im Kampf gegen den Winter; sie hatte nur noch wenige Stunden bis zu ihrem Untergang − ihre Freiheit kostete sie aber genüsslich aus, vor allem zum Wohlergehen der Bewohner des Lunatals, die für jede heilende Erinnerung an den Sommer dankbar waren.
Am Samstag durfte selbst ein Schulinspektor freihaben, obwohl sich die Samstage für Strafunterricht oder Freiwilligenarbeit bestens eigneten, was auch der Staat für sich zu nutzen wusste. Wie oft schon hatte Bartek zusammen mit seinen Schulfreunden im Stadtpark das Unkraut jäten müssen, in den Beeten mit den Kartoffelrosen! Meistens aber hatte er sich im Schatten von Bäumen und Sträuchern schlafen gelegt, um in schwereloser Traumlosigkeit so lange zu schwimmen, bis ihn die verantwortliche Lehrerin entdeckte und wieder zum Arbeiten aufrief: »So sieht heutzutage ein polnischer Arbeiter aus! Kein Wunder, dass es mit dem Sozialismus bei uns nicht klappt!«, schimpfte sie dann.
Marcins Vater verhielt sich Bartek und anderen Freunden seines Sohnes gegenüber stets freundlich und korrekt − professionell, dachte das Schusterkind −, obgleich überall das Gerücht kursierte, er sei in Wirklichkeit ein Agent des SB . Falls sich diese Vermutung einst als wahr entpuppen sollte, wäre das ganze Gebäude, das der Schulinspektor geschaffen hatte, abrissreif, denn sein größter Feind wohnte bei ihm zu Hause, nämlich sein eigener Sohn.
Marcins Vater begrüßte das Schusterkind und erklärte gleich im Flur, dass die Miliz in Zusammenarbeit mit der Armee die wahre Ursache für den Unfall mit den brennenden Kühen und dem Tanklastwagen der Schwarzen Kaserne herausgefunden habe. »Aha!«, antwortete darauf das verunsicherte Schusterkind und ließ sich auf ein Gespräch nicht ein. Der Aristokrat des Denkens und Handelns konnte seine Überraschung, als Bartek in sein Zimmer hereinplatzte, nicht verbergen. Und als die Tür geschlossen war, legte er den Zeigefinger an die Lippen, sagte »Pst!« und bedeutete seinem Gast, sich auf das Schlafsofa zu setzen. »Ich mache uns gleich Musik an – mein Alter darf kein einziges Wort von dem, was wir reden, mitbekommen!«, flüsterte er.
Marcins Zimmer war eine Bastion der menschlichen Zivilisation und Kultur. Er besaß eine ungeheure Bibliothek, die sich vor der alexandrinischen Sammlung Natalia Kwiatkowskas nicht schämen musste – selbst Science-Fiction-Comic-Hefte konnte man bei ihm finden, Relax und Alfa , und fremdsprachige Zeitschriften ebenso. Aber das Wichtigste war, dass er neben den Büchern, Zeitungen, Illustrierten und LP s auch einen Videorecorder und Fernseher besaß. Bartek hatte bei seinem Freund schon viele gute Filme gesehen – vor allem solche, die laut Marcin dem Hollywood-Kino den Todesstoß versetzt hätten, und die effektivsten Bezwinger der amerikanischen Traumfabrikproduktionen wären der König der Regisseure Ingmar Bergman und sein Meisterschüler Jean-Luc Godard, wobei Bergman wie auch seinem italienischen Pendant Federico Fellini niemand das Wasser reichen könne. Angesichts der Tatsache, dass Marcin nach dem Abitur in die USA abhauen wollte, fand das Schusterkind seine strengen Ansichten über die amerikanische Filmkunst etwas merkwürdig, um nicht zu sagen:
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