Der Lockvogel
den er zu erkennen glaubte. Er war jung, vielleicht dreißig, und trug eine dicke schwarze Mütze und einen wattierten Regenmantel, der ihm bis zu den Knien reichte. Seine Augenbrauen waren blond. Im Vorbeigehen schaute er Lock mit einer Miene absichtsvoller Gleichgültigkeit
an, als sei es unnatürlich, den Blick eines Fremden nicht eine halbe Sekunde lang zu erwidern. Lock kannte diese Mütze. Er hatte sie irgendwo gesehen. In Moskau? Nein, es war hier gewesen, da war er sich sicher. Er ging weiter, starrte auf das schmierige Pflaster und suchte angestrengt nach der Antwort. Am Checkpoint Charlie. Der Mann hatte die Informationstafeln auf der anderen Straßenseite gelesen, und als Lock die Straße überquert hatte, hatte er sich umgedreht und war weggegangen. Sie befanden sich jetzt eine halbe Stunde von dort entfernt, und das war eine große Stadt. Das geschah nicht aus Zufall.
Sie konnten unmöglich wissen, dass er hier war, dachte Lock. Er hatte sich so vorsichtig verhalten. Webster hat alles geplant. Vielleicht war es einer von Websters Leuten. Aber warum sollte er ihm jetzt folgen? Und die Mütze hatte etwas Östliches, etwas Moskowitisches. Es war die Art Mütze, die die Hälfte aller Männer in Moskau trug, wenn es Winter wurde.
Was hatte Webster darüber gesagt, wie man feststellte, ob man verfolgt wurde? Lock bog südlich in eine ruhige Wohnstraße ein. Er war der einzige Mensch dort. Nach zwei Dritteln des Weges blieb er stehen und klopfte sich demonstrativ auf die Taschen und durchsuchte sie. Dann drehte er sich um und fing an, den Weg zurückzugehen, den er gekommen war. Niemand da. Die Straße war leer. Er drehte sich wieder um, unterdrückte das starke Bedürfnis, über die Schulter zurückzublicken, und zwang sich weiterzugehen. Zwei Straßen weiter hielt er ein Taxi an und fuhr zurück ins Hotel. Die ganze Zeit über grübelte er über das nach, was er gesehen hatte.
Websters Maschine sollte um elf Uhr landen. Er hatte eine SMS geschickt, dass er Lock etwa um die Mittagszeit in seinem Hotel treffen würde.
Lock hatte nicht geschlafen. Die ganze Nacht lang hatte er die gleichen Fragen hin- und hergewälzt. Sollte er das Hotel wechseln oder nicht? In die Schweiz fliehen? Abwarten, bis jemand ihn abholte? Er hatte versucht zu lesen, aber die Zeilen glitten einfach ungelesen an seinen Augen vorbei.
Als der Tag anbrach, fühlte sich seine Haut fettig an und juckte; er konnte den säuerlichen Geruch seines Körpers nach altem Whisky und Schweiß riechen. Das Zimmer war stickig, die Vorhänge geschlossen. Ein abgestandener Geruch hing in der Luft. Immer noch wirbelten Fragen durch seinen Kopf. Malin. Was hatte Malin in seinem Telefongespräch mit Marina gemeint? Wie versuchte er, ihn zu retten? Wollte er ihn davor bewahren, seine Seele zu verlieren, indem er Mütterchen Russland verriet? Was sollte es sonst sein?
Und was war mit Webster, der kommen wollte, um ihn zu retten? Konnte er ihm vertrauen?
Ihm wurde klar, dass er es nicht länger in diesem Raum aushielt. Er duschte, zog sich ein weiches neues Hemd über – für einen Moment fühlte er sich wieder menschlich – und kleidete sich fertig an. Er öffnete die Vorhänge ein paar Zentimeter und schaute auf die Straße hinaus. Keine Bewegung. Keine Menschen. Er beobachtete die Straße sicherheitshalber eine Weile. Bevor er ging, tat er etwas, das er seit Schulzeiten nicht mehr getan hatte: Er riss sich zwei Haare vom Kopf und klebte sie mit abgelecktem Finger über die Öffnung der Schranktür und eine Schublade der Kommode. Er nahm ein drittes und balancierte es auf das Schloss seines
Koffers; ein viertes befestigte er in Knöchelhöhe zwischen Tür und Türrahmen, bevor er das Bitte-nicht-stören-Schild an die Klinke hängte. Er verließ das Hotel, um sich eine Frühstücksmöglichkeit zu suchen.
Es hatte endlich aufgehört zu schneien, und Lock ging mit der tief stehenden Sonne in den Augen den Kanal entlang. Auf dem Wasser hatte sich dünnes Eis gebildet, an einigen Stellen sah es dicker aus, aber am Rand paddelten immer noch Gänse. Wenige Leute waren hier gelaufen, und der Schnee auf dem Weg, auf den schwarzen Zweigen der Bäume, den Dächern und Balkonen und Zäunen war noch strahlend weiß. Locks neue Schuhe machten ein knirschendes Geräusch. Gelegentlich schaute er unwillkürlich hinter sich und sah niemanden. Er ging an einer Frau vorbei, die einen Spanielwelpen abrichtete, und an einem Mann in einem riesigen aufgeplusterten Mantel,
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