Der Lockvogel
und dafür zahlen würde, sicher aus dem Hotel gebracht zu werden. Gerber grunzte und versprach, ihn zur Nordseite des Gartenplatzes zu bringen; sein Auto stehe im Parkhaus unter dem Hotel, und Lock könne sich auf den Rücksitz legen. Sie wären in einer Viertelstunde da, und niemand würde etwas sehen.
Webster war schlagartig hellwach geworden, Erleichterung und Erregung pulsierten durch seine Adern, seinen Kopf hatte er schon vergessen. Er ging ins Bad, spülte sein Glas am Waschbecken aus, legte die Bücher zurück auf den Nachttisch, schüttelte die Kissen auf, strich die Bettdecke glatt und zog die Vorhänge auf.
Er schaute sich den Abschiedsbrief an. Wie unschuldig er aussah. Er nahm zwei Bögen Papier aus dem Regal und drei Stifte aus seiner Tasche. Einer davon war ein blauer Kugelschreiber. Er klickte die Spitze heraus und fing an, auf eines der Blätter zu schreiben, wobei er sorgfältig Locks Handschrift aus dem Abschiedsbrief kopierte. Seit mein Freund . Seit mein Freund . Es musste runder, ebenmäßiger werden. Langsam fand er einen Rhythmus. Seit mein Freund Dmitri Gerstman tot ist, bin ich unglücklich . Bei einigen Buchstaben saß der Schweif nicht ganz richtig, aber das war egal. Er nahm das unbeschriebene Blatt und fertigte zügig eine Reinschrift an. Er lehnte sich zurück und begutachtete sie. Nicht schlecht. Einen Spezialisten würde es keine Sekunde lang täuschen, doch auf den ersten Blick konnte man darauf hereinfallen, und mehr wollte er nicht erreichen. Er faltete das Blatt so, wie der Brief gefaltet gewesen war, und steckte
es in einen Umschlag, den er dort auf den Tisch legte, wo er den Brief gefunden hatte. Das Original schob er vorsichtig in seinen Umschlag zurück und verstaute beides in seiner Manteltasche, auch die Schmierzettel.
Mit einem letzten Blick vergewisserte er sich, dass der Raum genauso aussah wie vorher, dann schaltete er das Licht aus, nahm seine Tasche und ging hinaus. Unten erklärte er Frau Werfel, er habe Mr. Green gefunden und werde ihn bald zurückbringen.
Jetzt brauchte er ein Münztelefon und ein Taxi. Inzwischen hatte es leise wieder zu schneien begonnen. Die Stufen des Hotels waren erneut vereist, und er hielt sich am Geländer fest. Unten angekommen, blickte er auf und sah, dass sich von Westen ein Auto näherte, schneller, als es bei diesen Straßenverhältnissen vernünftig war – eine graue Mercedes-Limousine, in der nur der Fahrer saß. Er hielt zehn Meter vor dem Daniel gegenüber einem Garageneingang, und ein kleiner Mann in Mantel und Mütze stieg aus. Er kam rasch auf Webster zu, rutschte auf dem glatten Boden mehr als dass er ging. Im Laufen drehte er sich noch einmal um, um sein Auto abzuschließen. Als er wieder nach vorn blickte, standen sie sich gegenüber, und in diesem Moment erkannten sie einander. Webster sah Locks Qualen in den farblosen Augen, die nicht die geringste Überraschung verrieten.
Keiner der Männer wollte aufgehalten werden. Jeder hatte sein eigenes Ziel: Locks Zimmer revidieren; Lock retten. Eine Sekunde lang standen sie sich gegenüber, einen Meter voneinander entfernt, ein seltsames Patt. Der Mann trat zur Seite, um ihn vorbeizulassen. Als Webster auf gleicher Höhe war, ihre Augen bohrten sich immer noch ineinander, stellte
der andere ihm ein Bein, er streckte seinen Fuß aus und erwischte ihn am Knöchel.
Webster verlor auf dem Eis des Bürgersteigs das Gleichgewicht und landete bleischwer auf der Seite, der hartgefrorene Schneematsch traf seine Wange, als sei er aus Eisen. Instinktiv, wie bei einer Schulhofrauferei, schnellte sein Arm nach vorne, bekam ein Hosenbein des Mannes zu fassen und riss daran. Der Mann verlor den Halt unter den Füßen und fiel auf den Rücken, während Webster sich mit wegrutschenden Füßen bemühte, sich hochzurappeln. Doch er wurde von der Seite angerempelt, und dann war der andere Mann über ihm, Hände griffen nach seiner Kehle, Websters Arme waren gerade lang genug, ihn fernzuhalten. Für eine Sekunde lagen sie aneinandergeklammert da, starrten sich mit wütenden Augen an. Mit einem Ruck nahm Webster seine Hand von der Schulter des anderen, und als dieser das Gleichgewicht verlor und fiel, stieß er ihm zwei Finger in die Augen. Er versuchte aufzustehen, aber seine Ledersohlen rutschten weg, und er fand sich, wie ein Messdiener, auf den Knien wieder. Er griff nach der Autotür, um sich hochzuziehen. Der Mann zerrte an Websters Mantel, bis auch er auf den Knien war, ganz nah, seine
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