Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Lockvogel

Der Lockvogel

Titel: Der Lockvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Morgan Jones
Vom Netzwerk:
Geräusch verschwunden.
    Er presste die Hand gegen die Augen. Er musste überlegen, was er tun sollte. Er fühlte in der Tasche nach seinen Handys, fand aber nur die zerschmetterten Reste eines Telefons. Verdammt. Die Zahlen über der Tür setzten ihren langsamen Countdown fort. Sein Kopf war leer, und er hielt sich nur mit Mühe aufrecht. Er atmete tief durch, um bei Bewusstsein zu bleiben. Zwei. Eins. Erdgeschoss. Der Korridor war noch leer. Er setzte sich in Richtung der Außentür
in Bewegung, taumelte gegen die Wände. Am Ende des Korridors bog er instinktiv nach rechts ab, rammte mit der Schulter ein Zimmermädchen, das einen Arm voller Handtücher trug. Vor sich sah er eine doppelte Pendeltür aus Holz, in jedem Türflügel war in Kopfhöhe eine kleine Glasscheibe eingelassen. Er hörte, wie sich hinter ihm eine Tür öffnete und schnelle Schritte näher kamen; über die Schulter sah er den kleinen Mann auf sich zu rennen, seine Gummischuhe quietschten auf dem Linoleum, sein offener Mantel flatterte um ihn herum. Lock zwang seine Beine, schneller zu arbeiten, aber er konnte sie nicht kontrollieren. Sie gaben nach, als wären die Sehnen verschwunden. Halb rennend, halb stürzend, krachte er durch die Tür und fiel in den angrenzenden Raum.
    Er lag auf dem Rücken. Seine Hände fühlten Teppichboden, und er konnte gedämpfte Klaviermusik hören. Mühsam rollte er sich auf die Knie und schaute sich schwerfällig um. Menschen starrten ihn an: Menschen, die in Sesseln saßen und Drinks in den Händen hielten, Menschen, die an der Rezeption standen und eincheckten. In der Mitte des Raums stand eine Vase mit hohen Blumen, Lilien und Rittersporn, die einen wohltuenden Kontrast zu dem nüchternen Marmor und den dunklen Holztäfelungen bildete. Er befand sich in der Lobby eines Hotels. Immer noch kniend schaute Lock hinter sich. Er sah die schwarze Mütze und die Geisteraugen des kleinen Mannes, der ihn durch das Glas in der Tür beobachtete. Lock erhob sich mit schmerzenden Gliedern und hielt schwankend das Gleichgewicht. Der Empfangschef und eine Rezeptionistin flüsterten aufgeregt miteinander, dann machte der Empfangschef einem der uniformierten Portiers Zeichen, der entschlossen auf
Lock zukam. Lock hob die Hand und fing an, mit wackligen Schritten an den Blumen vorbei auf die gläserne Drehtür zuzugehen, die zur Straße hinausführte. Er konnte spüren, dass alle Augen auf ihn gerichtet waren. Die Klaviermusik spielte weiter.
    Draußen auf der Straße traf ihn die Kälte wie ein Schlag und ließ seine Augen tränen. Er schaute nach rechts und links. Rechts, an der Ecke des Hotels, stand der große Mann mit verschränkten Armen. Stand einfach nur da und beobachtete ihn. Lock trat zurück auf die Stufen des Hotels und drehte sich um, um wieder hineinzugehen. Durch die Glasfront konnte er sehen, dass der kleine Mann in der Mitte des Raums bei den Blumen wartete. Einen Augenblick lang war sein Kopf leer. Kein einziger hilfreicher Gedanke fand sich darin. Dass er es bis hierher geschafft hatte, verdankte er allein seinem Glück und dem, was von seinem Instinkt übrig geblieben war.
    Offenbar verfügte er immer noch über einen winzigen Rest. Er ging die Treppe hinauf und durch eine Tür, die sich links neben der Drehtür befand, womit er den Portier, der gerade von der anderen Seite kam, auf dem falschen Fuß erwischte. Er ging auf den kleinen Mann zu, der einen Moment lang überrumpelt aussah. Doch anstatt ihn anzugreifen oder anzusprechen, kletterte Lock unbeholfen auf den Tisch, stieß mit der Schuhsohle die Vase herunter und schrie dabei – er hätte nicht sagen können, ob es laut herauskam oder nur in seinem Kopf so klang – langsam und verwaschen auf Englisch: Lasst mich verdammt noch mal einfach in Ruhe.
    Gäste, die mit ihren Drinks in der Nähe saßen, erschraken, aber die schwere Glasvase blieb ganz; sie landete mit
einem dumpfen Schlag auf dem Teppich, und Wasser und Blumen ergossen sich über den Boden. Lock schaute auf die seltsame Szene hinab, die er verursacht hatte. Er hatte das Gefühl, hoch über ihr zu schweben. Der Portier, der inzwischen Verstärkung von einem Kollegen bekommen hatte, stand vor dem Tisch und überlegte offensichtlich, wie er Lock mit möglichst wenig Aufsehen dort herunterholen konnte. Das einzige Geräusch war der Chopin, der immer noch aus den Lautsprechern in der Decke plätscherte.
    »Englisch«, sagte Lock zu dem Portier. »Total betrunken.« Er setzte sich hin und ließ

Weitere Kostenlose Bücher