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Der Lockvogel

Der Lockvogel

Titel: Der Lockvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Morgan Jones
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sich erwünscht und wahrscheinlich auch verdient hatte. Marina wehrte sich dagegen und wies die Vorstellung zurück, dass die Russen es liebten zu leiden; sie sah nun die Gelegenheit für eine echte Revolution des Volkes gekommen, die es Russland erlauben würde, endlich die Größe zu erlangen, für die es bestimmt war. Während sie sprach, färbten sich ihre Wangen rot. Der Anblick von Marina im Streitgespräch nahm Lock gefangen, und er beobachtete sie fasziniert, während sie leidenschaftlich ihre Argumente vortrug, scheinbar ohne sich um die Anwesenheit der Älteren zu kümmern. Malin, der damals noch nicht so furchteinflößend gewesen war, schien jeden Moment zu genießen und stachelte vergnügt beide Seiten an.
    Mit den Gedanken immer noch in der Vergangenheit, kam er vor Marinas Wohnung an. Sie lag in der Straße Holland Park und blickte auf den gleichnamigen Park. Lock erinnerte sich, wie Vika ihm aufgeregt erzählt hatte, dass
sie in der Straße Holland Park, im Stadtteil Holland Park und neben dem Holland Park wohne. Auch das war London: das Ignorieren jedweder Verpflichtung zur Logik. Er stand einen Moment lang vor der Tür und schaute an dem Gebäude hoch: weißer Stuck, symmetrische Front, riesig, aber dennoch diskret. Er atmete tief durch, ging die wenigen Schritte bis zur Haustür und drückte auf den Klingelknopf.
    Auf dem Namensschild neben der Klingel sah er, dass sie immer noch Marina Lock hieß. Sie hatte seinen Namen behalten, als sie ihn verlassen hatte, und er sah in dieser Tatsache noch immer, trotz aller Versuche, realistisch zu sein, ein kleines, weltfremdes Hoffnungszeichen. In den wenigen Momenten, in denen er sein Leben ehrlich betrachtete, erkannte er, dass Marina zu gut für ihn war – vielleicht nicht für den Mann, der er einmal gewesen war, jedoch ganz sicher für den Mann, der er heute war. Dieses Wissen schmerzte ihn, teilweise um ihrer Willen, aber hauptsächlich, weil es das zerbrechliche Trugbild erschütterte, auf dem sein verbleibendes Selbstwertgefühl ruhte. Konnte er zeitweilig vergessen, wer er früher gewesen war, so gab es trotzdem immer Marina, die ihn wieder daran erinnerte.
    Ihre Stimme tönte aus der Sprechanlage: »Hallo?« Jedes Mal, wenn er sie hörte, klang sie ein bisschen weniger russisch.
    »Hier ist Richard.«
    »Komm rein.«
    Die zwei langen Treppen raubten ihm den Atem. Vika wartete auf dem Treppenabsatz auf ihn und rannte ihm entgegen, als er die letzten Stufen nahm.
    »Papa!«
    Er beugte sich zu ihr hinunter, um sie zu umarmen, fühlte
jedoch ein kurzes Stechen im Rücken und kniete sich statt-dessen hin. Sein Kopf ruhte auf ihrer Schulter. Ihm fiel ein, wie lange es her war, dass er jemanden in seinen Armen gehalten hatte.
    Marina stand in der Tür und lächelte, weniger reserviert, als sie noch vor einiger Zeit gewesen wäre. Er erhob sich und gab ihr einen Kuss auf jede Wange.
    »Du siehst gut aus«, sagte sie. »Wo warst du?«
    »Monaco, für zehn Tage. Es war heiß.« Eine Pause entstand. Er würde Oksana nicht erwähnen, und Marina würde nicht fragen. Und er war durchaus nicht davon überzeugt, dass er gut aussah.
    »Komm in die Küche. Ich mache gerade Vikas Abendessen.«
    Lock zauste dem Mädchen das Haar. Sie war blond wie ihre Mutter, hatte aber seine gerade Nase und seine blauen Augen. »Und, was gibt’s zum Essen, Häschen?«
    »Daddy, ich bin kein Häschen. Ich bin acht Jahre alt. Und ich esse Fischstäbchen.«
    »Sie ist so englisch geworden.« Vika ging in die Wohnung, und er folgte ihr.
    Eine Stunde lang saß Lock am Küchentisch und redete mit seiner Frau und seiner Tochter. Vika war anfangs scheu ihm gegenüber, entspannte sich aber, als er sie nach der Schule und England und ihren Ferien fragte. Sie und Marina sahen rundum gesund aus. Sie waren drei Wochen lang mit Marinas Eltern in Kap Kolka in Lettland gewesen. Sie waren gewandert, geschwommen und hatten Beeren gesammelt. Vika hatte einen Bussard gesehen. Marina behauptete, es sei ein Adler gewesen, aber Vika glaubte ihr nicht. Lock erinnerte sich noch daran, wie er mit seinem Schwiegervater
in ornithologischen Beobachtungshütten gesessen hatte; das war nie etwas für ihn gewesen.
    »Daddy, wann kannst du mit uns in Urlaub fahren?«
    »Naja«, sagte Lock, »vielleicht könnten du und ich nach Holland fahren und Opa besuchen. Wir könnten in den Herbstferien fahren.«
    »Kommst du auch mit, Mami?«
    »Mal sehen.«
    Sie sprachen über Vikas Freundinnen, Marinas Eltern und ihre

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