Der Lockvogel
fehlen, aber tanzt einfach euren Part und macht euch nicht zu viele Gedanken.«
Lock sah zu, wie Vika auf die linke Seite der Gruppe lief,
sich geschmeidig auf ein Knie niederbeugte und zu einer Kugel zusammenkauerte, die Hände über dem Kopf verschränkt. Neben ihr nahmen die anderen Kinder sorgfältig ihre Startpositionen ein, einige zusammengerollt wie Vika, andere zu Sternen gruppiert, wieder andere nach hinten gebeugt, die Arme zu allen Ecken des Raums ausgestreckt. Auf ein Nicken der Lehrerin hin füllte sich die Halle mit dem Wummern basslastiger Musik. Vier Takte lang blieben die Tänzer still, beinahe unheimlich still, bis sie mit großer Präzision in einen synkopierten Rausch von Bewegungen, Drehungen, Sprüngen, Tritten, komplizierten Arm- und Beinbewegungen in die Luft explodierten, wobei einige den Takt besser hielten als andere. Jede Tänzerin hatte ihren eigenen Stil. Vikas Stil war ernsthaft, aber leicht, die Entschlossenheit in ihren Augen widersprach der Grazie ihrer Schritte, selbst hierin glich sie ihrer Mutter. Sie war ein paar Zentimeter größer als die anderen und trotz ihrer Natürlichkeit würdevoller, so als ob etwas aus all ihren Ballettstunden, vielleicht auch etwas von Russland, sie nie verlassen hätte.
Lock spürte Tränen in seiner Brust aufsteigen; er wusste nicht, warum. Er war kein sentimentaler Mann. Wenn er alleine in Moskau war, vermisste er Vika, doch am stärksten vermisste er die praktischen Dinge des Alltags: mit ihr zusammen zu sein, mit ihr zu reden, ihr Dinge beizubringen, sie lachen zu hören. Er begriff, dass er ein völlig veraltetes Bild von ihr hatte. Sie war jetzt ein anderer Mensch, anders, weil sie in London war, anders, weil sie acht Jahre alt war, anders, weil sie auf diese Art tanzte, die so neu und doch so ganz sie selbst war. Als er sah, wie sie sich zur Musik bewegte, gleichzeitig frei und souverän, verspürte er einen kleinen Anflug von Panik bei dem Gedanken, dass er sie vielleicht
nie wieder richtig kennen würde. Doch die Tränen, die er zurückhielt, galten nicht ihm selbst und hatten nichts mit Traurigkeit oder Angst zu tun.
Er schluckte einmal bewusst, lächelte Marina an und schaute wieder weg. Unter ihm ging der Tanz zu Ende, Vika rutschte auf den Knien, Kopf und Arme zurückgeworfen, und kam zum Halten. Er klatschte, und die Handvoll Eltern auf der Empore fiel in den Applaus mit ein. Vika stand auf und lächelte zu ihm hoch.
»Alles in Ordnung?«, fragte Marina.
Er wandte sich ihr wieder zu und lächelte erneut, womit er nicht einmal sich selbst überzeugen konnte. »Es ist einfach schön, sie zu sehen.«
»Wir haben großes Glück.«
»Das haben wir.«
Lock machte eine Pause. Ihm war vage bewusst, dass er eine Frage stellen musste, die er nicht formulieren konnte. »Ist sie glücklich? Hier in London?«
»Ich glaube schon. Sie liebt London.« Marina blickte ihn forschend an, ein leichtes Runzeln auf ihrer Stirn. »Trifft das deine Frage?«
»Ich weiß es nicht.« Er schaute nach unten. Die Lehrerin forderte die Kinder auf, einen Kreis zu bilden. »Ich mache mir Sorgen darüber, was ich ihr angetan habe.«
»Sie sieht es nicht als deine Schuld.«
»Das heißt nicht, dass es nicht meine Schuld ist. Sie wird es eines Tages wissen.«
Marina verschränkte die Arme und schaute den Tänzerinnen zu. »Worauf willst du hinaus?«
»Ich … ich nehme an, ich würde mich gerne bei ihr entschuldigen.«
»Sie würde es nicht verstehen.«
»Ich meine nicht mit Worten.«
»Wie sonst?« Marina schaute ihn an und wandte sich dann wieder dem Unterricht zu.
Lock dachte nach. Er konnte es nicht in Worte fassen, weil er selbst noch nicht wusste, was er eigentlich sagen wollte. Marina wusste immer, was in ihrem Herzen vor sich ging, und je komplizierter die Situation war – wenn er selbst in Wünschen und Ängsten herumstocherte, die immer im Schatten blieben, still und unauffällig –, desto klarer wusste sie es. Daran erinnerte er sich von ihren Streitigkeiten. Erst später war ihm klar geworden, dass diese leichten Siege Marina keinen Triumph gebracht haben konnten, im besten Falle mussten sie eine weitere Enttäuschung für sie gewesen sein. Inzwischen war ihm bewusst, dass er ihr zumindest zeigen wollte, dass er sich geändert hatte.
Was also wollte er? Irgendein Wissen musste aus dem langsamen, tröpfelnden Prozess der letzten vier Jahre destilliert worden sein. In seinem Kopf standen sich zwei Bilder gegenüber: seine Wohnung in Moskau,
Weitere Kostenlose Bücher