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Der Lockvogel

Der Lockvogel

Titel: Der Lockvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Morgan Jones
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braune Schuhe. Der Kirchensaal lag ein Stück nördlich von Marinas Apartment in einer weniger vornehmen, weniger makellosen Gegend. Er war ein Klotz aus fleckigen Backsteinen, der zwischen älteren Häusern stand, die gleichförmigen Wände durch lange schmale Milchglasfenster unterteilt. Lock beobachtete die Mütter und Väter, die mit ihren Kindern ankamen, und fragte sich, wie viele von ihnen allein lebten.
    »Daddy!« Vikas Stimme durchschnitt den Lärm des vorbeifahrenden Verkehrs. Er drehte sich um und sah, wie sie von der Ecke aus auf ihn zurannte. Als sie ihn erreichte, bückte er sich ein wenig und breitete die Arme aus, einen Augenblick später hob er sie hoch, sein Rücken steif und schwach. Sie war unerwartet schwer, und die Weichheit, an die er sich erinnerte, war Rippen und Muskeln gewichen. Sie war stark.
    »Hallo, Häschen.« Er setzte sie ab und lächelte Marina zu, die ihnen entgegenkam. »Guten Morgen.«
    »Morgen. Wie geht’s dir?«
    »Daddy, bleibst du hier und schaust zu?«
    »Natürlich. Wenn ich darf.«
    Vika schubste ihn spielerisch, als ob er Witze machte.
    »Mami, er darf doch, oder?«
    »Ich wollte nicht …«, sagte Lock.
    »Kein Problem«, sagte Marina und lächelte. »Ich weiß. Wir schauen von oben zu.«
    Vika nahm Locks Hand und führte ihn in die Halle. »Komm, Daddy.« Innen verabschiedeten sich Eltern von ihren Kindern oder stiegen die Treppe zu einer Empore hinauf,
die sich über die ganze Länge des Gebäudes erstreckte. Die Wände bestanden aus rohem Backstein, der Boden aus abgewetztem Parkett.
    »Musst du nicht was anderes anziehen?«, fragte Lock.
    »Was denn?«, sagte Vika.
    »Ich weiß nicht. Tanzkleidung.«
    »Das ist meine Tanzkleidung.« Sie trug Turnschuhe, graue Leggings und ein grasgrünes T-Shirt mit einer stilisierten Eiche auf der Brust, deren Wurzeln in das Wort Wachsen übergingen, das in weißen Großbuchstaben aufgedruckt war.
    »Komm«, sagte Marina und führte Lock an der Hand bis zur Treppe. »Viel Spaß, mein Schatz.«
    Vika rannte in die Halle, drehte sich auf halbem Weg noch einmal um und winkte. Ihr Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und Lock dachte, wie viel älter sie aussah und wie sehr sie ihrer Mutter glich – ihre gerade Nase, ihr schmaler, aber starker Hals. Sie ähnelte ihm weniger als früher.
    Er und Marina saßen auf einer Bank auf der Empore. Er legte seine Arme auf die Balustrade vor ihm und schaute auf Vika hinunter. Sie stand in einer Gruppe Kinder, die über ihre Ferien plapperten und Tanzbewegungen übten, auf den Fersen saßen und Posen einnahmen. Sie stand am Rand der Gruppe, hörte zu, wie sich die anderen in dem Bedürfnis, zu Wort zu kommen, gegenseitig unterbrachen, und wartete auf den geeigneten Zeitpunkt.
    Marina legte ihre Hand auf seinen Arm. »Danke, dass du gekommen bist. Es ist schön, dich zu sehen.«
    »Ich hätte schon früher kommen sollen.«
    Marina antwortete nicht, sie beobachtete Vika. Nach einem Moment sagte sie: »Sie freut sich so, dich zu sehen.«

    »Ich weiß, das erleichtert mich.«
    »Ich habe mich bemüht, dir nicht die Schuld zu geben.«
    Lock wollte ihr danken, empfand das jedoch als unpassend. Sie schwiegen eine Weile.
    »Was ist denn aus dem Ballettunterricht geworden?«, fragte er.
    »Das macht sie mittwochs. Aber jetzt liebt sie das hier. Sie übt die ganze Zeit.«
    »Ich wette, sie ist gut.«
    Marina lächelte und sah auf die Tänzerinnen hinunter. Sie hatten sich in zwei Reihen von zehn Kindern aufgestellt und hörten ihrer Lehrerin zu, einer Frau von etwa zwanzig, die ein graues Schlabber-T-Shirt trug und sich auf eine Weise hielt, die irgendwie gleichzeitig locker und gespannt wirkte. Das Schnattern war verstummt, und die Kinder schauten ihr aufmerksam zu, während sie hin- und herging. Vikas Gesicht war ernst und konzentriert.
    »Guten Morgen, alle miteinander.« Sie hatte die Stimme einer Lehrerin, durchdringend und klar. »Schön, euch hierzuhaben. Ihr seht alle sehr erholt aus. Wollen wir hoffen, dass ihr euch fit fühlt.« Ein oder zwei Kinder grinsten, aber Vikas Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. »Wir haben eine ganze Menge neuer Gesichter bei uns, das ist klasse. Willkommen bei St. Luke’s Dance. Ich bin Jennifer. Ich denke, wir zeigen heute den neuen Tänzerinnen einmal das, was sie auch bald können werden. Also – alle, die letztes Jahr hier waren, probieren jetzt unsere Nummer aus der Show. Mal schauen, woran wir uns noch erinnern. Ein paar Tänzerinnen

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