Der Lockvogel
dem irischen Unternehmen handelte es sich um Faringdon, das in den letzten Monaten damit beschäftigt gewesen war, in den Ländern, die in dem Artikel als »Russlands nahe Nachbarn« bezeichnet wurden, Unternehmen aufzukaufen: eine rumänische Raffinerie am Schwarzen Meer, ein petrochemisches Unternehmen in Weißrussland und eine Gaslagerungsanlage in Aserbaidschan. Inessa hatte Faringdon so anonym vorgefunden wie er heute – vielleicht noch mehr, denn damals hatte es noch weniger Aktivitäten an den Tag gelegt. Sie gab die Adresse an, das Gründungsdatum, die Direktoren (Lock wurde in einem Absatz als
»Jurist von geringem Ansehen« abgetan), ging aber nicht weiter darauf ein. Vielleicht hatte es ihr gereicht, es bei mysteriösen Andeutungen zu belassen.
Die zweite Hälfte des Artikels war faszinierend – nicht wegen dem, was er darin stand (Knight hatte das und mehr bereits angedeutet), sondern wegen dem, was ausgelassen wurde. Faringdon, schrieb Inessa dort, war ein Vehikel, gesteuert von einer Fraktion innerhalb des Energieministeriums, um den Einfluss Russlands auf die Energieindustrie seiner Nachbarn zu kanalisieren. Wo Unternehmen einst für Spionagezwecke genutzt worden waren, um Deckmantel oder Logistik zu bieten, erlaubten die nunmehr geöffneten Arme des Kapitalismus den Russen jetzt, das zu besitzen, was sie vorher nur beobachtet hatten. Der Plan hatte eine neue Dringlichkeit bekommen, weil im Gefolge der Finanzkrise von 1998 Vermögenswerte billig zu haben waren und Russland in den Augen der Welt schwach und dumm aussah. Der Artikel endete mit einigen fundierten Spekulationen darüber, welches Ziel Faringdon als Nächstes anpeilen würde.
Malin wurde nicht erwähnt. Es schien seltsam, dass Inessa aus einer derart guten Quelle offensichtlich so viel erfahren hatte, nur nicht den Namen der Person, die im Ministerium die Fäden zog. Aber andererseits hatte der ganze Artikel einen falschen Klang. Es war ungewöhnlich für Inessas Arbeit, dass sie keine der Quellen erwähnte, nicht einmal, um zu sagen, dass sie nicht genannt werden durften. Die Geschichte las sich, als sei sie ihr schon halb fertig von jemandem zugetragen worden, der ein Interesse daran gehabt hatte, sie gedruckt zu sehen. Doch wenn das der Fall war, warum stand sie dann in einem obskuren Londoner
Handelsmagazin mit einer winzigen und spezialisierten Leserschaft? Warum wurde Malin nicht erwähnt? Warum war es ohne jegliche Belege geschrieben worden? Warum in aller Welt hatte man es ausgerechnet Inessa schreiben lassen?
Das war das Merkwürdigste von allem. Es las sich nicht wie Inessas Arbeit. Es war unausgewogen, es überzeugte nicht, es war nicht gut genug. Kein Wunder, dass niemand daran gedacht hatte, die Story aufzugreifen.
Webster verbrachte eine weitere halbe Stunde damit, frühere und spätere Ausgaben auf weitere Erwähnungen von Inessas Namen zu überprüfen, konnte aber keine finden. In Gedanken versunken und noch ratloser als nach seinem Gespräch mit Alan Knight, machte er sich auf den Weg zurück ins Büro.
Fast zehn Jahre zuvor, in den Tagen nach Inessas Beerdigung, hatte er eine Liste der Geschichten zusammengestellt, die Inessa umgebracht haben könnten. Am Ende hatte er sie unter den Aspekten Mittel und Motiv von einem Dutzend auf drei reduziert: eine Geschichte über ein korruptes Duma-Mitglied und den Anführer des organisierten Verbrechens in Swerdlowsk, einen Artikel über den Mord an einem Chemie-Manager in Moskau und die Serie über die Besitzer der kasachischen Aluminiumfabrik. Doch in allen drei Fällen tauchte das gleiche Problem auf: Für einen Russen war es unsinnig, eine Journalistin im Ausland zu ermorden, selbst wenn es nur über die Grenze in Kasachstan war, weil das einen Vorgang verkomplizierte, der in der Heimat beinahe zur Routine geworden war. In Russland starben Journalisten vor allem an zwei Orten: in Tschetschenien, wo es kein Gesetz gab und jeder mit Gewalt konfrontiert war, oder in ihrem Zuhause, in ihrem eigenen Treppenhaus – überfallen,
ausgeraubt, über das Geländer gestürzt. Und Verurteilungen erfolgten entweder zu schnell oder gar nicht. Während seiner Zeit in Russland waren drei oder vier Journalisten pro Jahr auf diese Weise ums Leben gekommen, und für jeden Mord, der als Gelegenheitsverbrechen von Landstreichern oder betrunkenen Neonazis zu den Akten gelegt wurde, gab es ein halbes Dutzend, das einfach nie aufgeklärt wurde. Wer auch immer sich von Inessa bedroht gefühlt hatte,
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