Der Lockvogel
setzte sich auf eine Bank gegenüber dem Bürogebäude aus dem neunzehnten Jahrhundert. Mit etwas Glück würde Gerstmann zum Mittagessen das Büro verlassen; Kontinentaleuropäer taten das vernünftigerweise meistens.
Mit der Eingangstür fest im Blick hörte er seine Handy-Mailbox ab. Tourna hatte angerufen, während er im Flugzeug saß. Er wollte in zwei Wochen nach London kommen und die Fortschritte besprechen. Wenn es bis dahin keine Bewegung gab, dachte Webster, wäre das der richtige Zeitpunkt, um die Sache zu beenden. Schon der Gedanke daran ließ seinen Mut sinken.
Um Viertel nach zwölf verließen Menschen allein oder zu zweit das Gebäude. Webster hoffte, dass er Gerstman anhand des Fotos erkennen würde; allerdings hatte er keine Ahnung, wie groß er war und welchen Teint er hatte. Kurz nach halb eins erschien ein hochgewachsener, auffallend gepflegter Mann, der einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd
und eine dunkelblaue Krawatte trug; es war Gerstman. Neben ihm ging ein etwas kürzerer und breiterer Mann, in dem Webster Gerstmans Partner Prock erkannte. Webster folgte ihnen in einer Entfernung von vielleicht zwanzig Metern. Die beiden Männer gingen zügig und unterhielten sich dabei die ganze Zeit. Nach fünf Minuten betraten sie ein nicht besonders vornehm aussehendes italienisches Restaurant. Webster beendete die Verfolgung und kehrte zu seiner Bank zurück.
Exakt eine Stunde später kamen Gerstman und Prock wieder. Webster wartete fünf Minuten und wählte dann die Nummer der Bürozentrale von Finist. Er sprach zuerst mit der Empfangsdame und dann mit Gerstmans Sekretärin; er erklärte, sein Name sei Benedict Webster, er rufe von einer Firma namens Ikertu Consulting an und würde gerne mit Mr. Gerstman über ein Thema sprechen, das für sie beide von Interesse sei. So, dachte er, jetzt sind wir aus der Deckung getreten. Sie erklärte ihm, dass es ihr sehr leidtue, aber Mr. Gerstman sei nicht erreichbar. Ob er ausgegangen sei? Ja, genau. Wann er zurückkehren werde? Das könne sie leider nicht sagen. Webster dankte ihr und legte auf.
Finists Nummer war Berlin 69745600. Webster wählte 69745601 und erreichte ein Faxgerät. 5602 klingelte eine Weile, bevor es zu Procks Sekretärin umgeleitet wurde. Er legte auf und wählte 5603.
»Gerstman.«
»Herr Gerstman, hier spricht Benedict Webster. Ich arbeite für ein Unternehmen namens Ikertu Consulting. Ich würde mich gerne mit Ihnen …«
»Woher haben Sie meine Durchwahl?«
»Ich würde mich gerne eine halbe Stunde mit Ihnen unterhalten.«
»Ich spreche nicht mit Leuten, die ich nicht kenne«, sagte Gerstman und legte auf.
Webster wählte die Nummer erneut. Gerstman hob beim ersten Klingeln ab und legte sofort wieder auf.
Webster schaute sein Handy an, hob eine Augenbraue und stand auf. Es war nicht weit bis zu seinem Hotel. Er ließ seinen Aktenkoffer und seinen Mantel dort und ging aus, um etwas zu essen.
Um vier Uhr nahm er wieder seinen Posten auf der Bank ein, die inzwischen in der Sonne lag, und schaute den Berlinern zu, die ihren Geschäften nachgingen. Es fiel ihm schwer, sie einzuordnen: In London und Moskau konnte er die Zeichen fließend lesen, die Hinweise darauf gaben, welchen Beruf jemand hatte, wo er wohnte, was ihm wichtig war – der Schnitt des Anzugs, die Qualität der Schuhe, die Zeitung unter dem Arm, der Akzent, die unbewusste Körperhaltung –, aber hier war die Sprache eine andere und die Menschen, wie er vermutete, nicht so leicht in Gruppen einzuteilen. Diese Beobachtungen hielten Webster eine Weile beschäftigt, doch um fünf fing das Büro an, sich zu leeren, und seine Gedanken wanderten gegen seinen Willen zu Inessa.
Er hatte sie in Rostow im Süden Russlands kennengelernt, wo sie beide über Streiks berichteten, die sich im Laufe des Sommers von Osten her ausgebreitet hatten. Sie waren im Flugzeug von Moskau aus miteinander ins Gespräch gekommen und zusammen in die Bergarbeiterstadt Schachty gefahren. Inessa hatte empört gegen die Behandlung der Bergleute gewettert – viele dort hatten seit sechs Monaten keinen Lohn mehr erhalten. Ihr rundes Gesicht war umrahmt von kurz geschnittenem dichtem Haar, das so
schwarz war wie ihre Augen, und sie ging immer so schnell, als würde sie marschieren.
Nach Rostow sahen sie sich oft in Moskau, fanden sich von Zeit zu Zeit an den gleichen Nachrichtenbrennpunkten in entfernten Landesteilen wieder, halfen einander mit Informationsquellen und Ideen. Inessa lieferte ihm
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