Der Lockvogel
Storys in der Hoffnung, dass diese ihren Weg in die Times finden würden, und manchmal taten sie das wirklich. Sie redete davon, ihre eigene Zeitschrift zu gründen, und erklärte ihm, er müsse ein paar wohlhabende ausländische Mäzene für sie finden, damit sie zusammen den russischen Journalismus umkrempeln konnten. Er lernte ihre Freunde kennen und war drei Monate vor ihrem Tod zu Gast bei ihrer Hochzeitsfeier in Samara, wo sie aufgewachsen war.
Irgendwann wurde ihm klar, dass Inessa das verkörperte, was er in Russland zu finden gehofft hatte: Inmitten all des rasenden und chaotischen Wandels war sie eine Konstante der Wut, des Mutes und der Hoffnung gewesen. Solange es Menschen wie sie gab, hatte er gedacht, gab es Hoffnung für Russland.
Sie war das genaue Gegenteil von Malin – die beiden schienen als Gegensätze geschaffen worden zu sein, und es bot sich geradezu auf verführerische Weise an, ihn mit ihrer Geschichte zu verknüpfen. Sein Instinkt sagte ihm, dass er dorthin gehörte, und seine Logik stimmte dem zu. Von all den Kandidaten, die für ihren Mord infrage kamen, war er der Einzige mit makellosem Ruf. Er hatte bereits damals mehr Macht angesammelt als die anderen, auf dem Weg zu großen Dingen, doch sein Name war unbekannt und sein Projekt noch immer ein Geheimnis. Keiner von Inessas Feinden hätte Angst gehabt, erwischt zu werden; Malin war
der Einzige, der fürchten musste, in Verdacht zu geraten. Und so brach er mit der Tradition. Töte eine Journalistin in Russland, und es ist jedem klar, dass sie wegen ihrer Arbeit gestorben ist; töte sie in Kasachstan, und es wird als tragischer Schicksalsschlag in Vergessenheit geraten. Es war eine Täuschung gewesen, und Webster selbst war, wie er von Anfang an vermutet hatte, das Instrument gewesen, das den Trick erst möglich machte: Warum sollte er bei ihrem Tod dabei sein, außer, damit er hinterher darüber schrieb und sprach?
Man hatte ihn also dafür ausgewählt, diese Gewissheit zu rechtfertigen, bis sich alle Argumente in Luft auflösten, und eine Zeit lang spielte er in Gedanken mit der Frage, wie er das alles beweisen könnte. Wenn dies ein Auftrag wäre, wie würde er vorgehen? Den Kasachen interviewen, der für den Mord verurteilt worden war, die Gerichtsakten durchgehen, Malins Sicherheitsleute identifizieren, die Immigrations- und Flugdaten für Kasachstan in den Tagen vor Inessas Tod ausgraben, vergeblich hoffen, eine zuverlässige Informationsquelle zu finden. Auf seiner Bank in Berlin schnaubte Webster verächtlich und schüttelte langsam und frustriert den Kopf. Nichts davon würde funktionieren. Man würde es nicht zulassen. Es gab einfach Dinge in Russland, die nicht dazu bestimmt waren, bekannt zu werden.
Um sechs rief er zu Hause an und sprach mit seinen Kindern. Elsa war noch auf der Arbeit, und das Kindermädchen machte ihnen gerade Abendessen. Er wünschte, er hätte sich eine Flasche Wasser mitgenommen. Es war fast acht, als Prock die Nummer 20 verließ, und noch etwas später, als Gerstman selbst auftauchte. Er ging geradewegs Richtung Kurfürstendamm. Webster folgte ihm, diesmal in
einem leichten Trab, und hatte ihn eingeholt, als er gerade die Hauptstraße erreichte.
»Herr Gerstman?«
»Ja?«
»Mein Name ist Benedict Webster. Ich habe vorhin angerufen.«
»Ich habe mit Ihnen nichts zu besprechen«, sagte Gerstman und ging weiter. Er überquerte die Straße durch den langsamen Verkehr hindurch. Webster war von seiner Kaltblütigkeit beeindruckt. Er entschied sich, ein Risiko einzugehen.
»Es geht um Richard Lock. Ich glaube, dass er möglicherweise in Gefahr ist.«
Gerstman blieb stehen und schaute Webster zum ersten Mal richtig an.
»In welcher Art von Gefahr?«
»In der Art, bei der man ins Gefängnis muss. Oder bei der man nie die Chance dazu bekommt.«
Gerstman starrte Webster weiter an und studierte sein Gesicht mit ausdrucksloser Miene.
»In Ordnung. Ich habe jetzt keine Zeit. Wir treffen uns um elf in der Bar im Hotel Adlon. Die Bar in der Lobby.«
Webster ging in sein Hotel zurück, duschte und zog sein frisches Hemd an. Er aß in dem Restaurant zu Abend, in dem Gerstman und Prock zu Mittag gegessen hatten, und nahm um zehn ein Taxi zum Adlon. Was für ein nobles Hotel – und wie viel nobler musste erst das Original gewesen sein. In der Bar der Lobby gab es tiefe Sessel, gedämpftes Licht und sanfte Klaviermusik, die von der Decke herabschwebte; es waren kaum Gäste da. Er setzte sich an die Bar,
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