Der Lockvogel
Auf beiden Seiten waren Türen, die alle geschlossen waren. Den Boden bildete ein goldfarbenes Parkett, und an der Wand hingen Farbfotografien verschiedener Wahrzeichen des modernen Berlins: die Neue Nationalgalerie, der renovierte Reichstag und mehrere Gebäude, die Webster nicht erkannte. Die Fotos waren gut, und Webster fragte sich, ob Nina sie gemacht hatte. Oder Gerstman.
Der Korridor mündete am hinteren Ende der Wohnung in ein helles Wohnzimmer mit großen Fenstern auf zwei Seiten. Hier gab es keine Fotografien, sondern viele Gemälde, abstrakte Kunst und Porträts, die in Gruppen zusammen hingen.
»Möchten Sie etwas trinken, Mr. Webster?«, fragte Nina. Ihre Stimme war leise und trocken. Webster lehnte dankend ab. Sie setzte sich in kerzengerader Haltung auf die Kante eines niedrigen Sofas, und Webster nahm ihr gegenüber in einem Sessel Platz. Auf dem Glastisch zwischen ihnen lagen Verkaufskataloge von Auktionen für moderne Kunst
in London und Paris. Sein Sessel war niedrig, und er hatte Probleme, eine Haltung zu finden, die ihm angemessen schien.
Nina schaute Webster an. Er fragte sich, was sie wohl sah. Im Licht war ihr Gesicht blass, bis auf die Haut unter ihren Augen, die ein dunkles Grauviolett zeigte.
»Danke, dass Sie mich empfangen. Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür«, sagte er.
»Ich wollte Sie sehen.«
»Ich möchte zuerst sagen, wie … wie leid es mir tat, die Nachricht zu hören.« Die Worte klangen dünn und spröde, als er sie aussprach.
»Danke.«
»Ich habe es vom Partner Ihres Mannes erfahren. Er hat mich angerufen. Er sagte mir, dass …« Er zögerte. »Er war der Meinung, dass mein Treffen mit Dmitri seinen Tod verursacht haben könnte.«
Nina schwieg.
»Es war nicht meine Absicht, irgendjemandem zu schaden.«
Wieder gab Nina keine Antwort, sondern blickte ihn die ganze Zeit nur unverwandt an. Sie war gefasst; Webster fühlte sich miserabel. Er konnte nicht erkennen, ob Resignation oder eine stumme Wut sie erfüllte. Schließlich sagte sie: »Ich weiß nicht, warum er starb, Mr. Webster. Ich hätte gerne, dass die Ungarn mir diese Frage beantworten, aber ich glaube, das werden sie nicht tun.« Sie machte eine Pause. »Was glauben Sie, warum er starb?«
»In gewisser Weise kannte ich ihn kaum. Ich bin wahrscheinlich der Letzte, der sich ein Urteil erlauben darf.« Webster veränderte seine Sitzhaltung.
»Aber was glauben Sie?«
»Ich habe das Gefühl, dass er ermordet wurde.«
»Warum glauben Sie das?«
»Wegen dem, was ich aus Ungarn höre. Weil es eine sehr seltsame Art war, es … es zu beenden. Weil die Ungarn so schnell zu einem abschließenden Urteil gekommen zu sein scheinen.«
»Ich habe das gleiche Gefühl. Aber ich würde es gerne wissen.«
»Ich auch.«
Nina hatte ihre Hände im Schoß gefaltet. Sie löste sie und kratzte sich leicht am Unterarm.
»Das ist es, was ich von Ihnen wissen will, Mr. Webster. Warum Sie es wissen wollen. In gewisser Weise geht es Sie nichts an. Sie haben Dmitri ein Mal getroffen. Sie kannten ihn nicht.«
Webster hatte diese Frage vorausgesehen. Er hatte eine Antwort vorbereitet, die ihm aber jetzt hoffnungslos unpassend erschien. Er wollte gerade dazu ansetzen, als auf einem Tisch in einer Ecke des Raums ein Handy zu summen begann.
»Entschuldigen Sie mich.« Nina stand auf, um das Gespräch anzunehmen. »Gerstman.« Sie ging in den Flur und redete leise. Trotzdem konnte Webster hören, was sie sagte. Ihr Gesprächspartner redete mehr als sie. »Ja«, hörte er sie auf Deutsch sagen. »Nicht jetzt, nein. Ich habe jemanden hier. Ja.« Eine lange Pause. »Das hast du nicht zu entscheiden. Ich wollte ihn sehen.« Websters Deutsch reichte aus, das meiste davon zu verstehen. »Ja, mir geht es gut. Vielleicht morgen. Oder Mittwoch. Ja. Auf Wiedersehen. Auf Wiedersehen.«
Nina kam ins Zimmer zurück und setzte sich. Sie legte das Telefon auf den Glastisch vor sich.
»Tut mir leid«, sagte sie. »Nur ein Freund.«
»Sie müssen mir sagen, wenn ich lieber gehen soll.«
»Nein, es ist okay.«
»Danke.« Webster riskierte ein Lächeln, von dem er hoffte, dass es mitfühlend wirkte; Nina erwiderte es nicht. Ihr Gesicht war schwer zu lesen. Es war versteinert, gefroren, aber nicht vor Zorn. Es lag etwas anderes darin. Er versuchte es erneut: »Sie haben mich gefragt, warum ich noch interessiert bin. Ich will den Mann stoppen, der dafür verantwortlich ist.«
Nina nickte. »Und warum sind Sie hier?«
Auch das hatte er vorausgesehen.
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