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Der Lockvogel

Der Lockvogel

Titel: Der Lockvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Morgan Jones
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entschied sich, zu Fuß zum Hotel zurückzugehen. In ein paar Minuten begann das Schiedsverfahren in Paris, dachte er und fragte sich, ob er nicht besser dorthin geflogen wäre.
    Diesmal nahm er die Stadt in sich auf. Der Tag war kalt und eisgrau und warf sein gleichförmig stumpfes Licht über die breiten Straßen. Er ging von Charlottenburg, wo die
Reichen in ihren Stadthäusern lebten, durch das alte, renovierungsbedürftige Zentrum Westberlins, einem Durcheinander von Autokolonnen und Baustellen, bis hinauf zum Tiergarten, wo die Birken all ihre Blätter verloren hatten. Das erinnerte ihn an Russland, an Spaziergänge im Ismailowoer Park mit Inessa und ihren Freunden. Sie wäre hierhergekommen, dachte er, sie hätte mit Nina gesprochen. Inessa hatte niemals wissentlich eine Story unfertig gelassen.
    Gegen fünf dachte er, er würde an diesem Tag nichts mehr von Nina Gerstman hören. Vielleicht war sie frühmorgens zur Universität gegangen und hatte seinen Brief nicht gesehen. Er hatte sich keine feste Frist gesetzt, wie lange er in Berlin bleiben wollte. Für den nächsten Abend war sein Flug nach Paris gebucht, wo er sich mit Onder treffen wollte, aber die Reservierung könnte er ändern. Das Schiedsverfahren würde die ganze Woche dauern, und Onder würde die meiste Zeit dabei sein. Sollte er sich mit Prock treffen, falls Nina nicht antwortete? Sein Instinkt sagte Nein, aber wahrscheinlich sollte er es dennoch tun. Er beschloss, einen weiteren Brief zu schreiben und ihn in Procks Büro einzuwerfen, damit dieser ihn am folgenden Morgen hatte. Er warf ihn am Abend auf seinem Weg zum Essen ein.
    Um kurz vor neun Uhr abends meldete sein Handy mit einem Piepston, dass er eine SMS-Nachricht bekommen hatte. »Mr. Webster. Bitte kommen Sie morgen früh um 9 Uhr in meine Wohnung. Vielen Dank. Nina Gerstman.« Sie war also da. In diesem Moment wurde ihm klar, dass es ihm wesentlich leichter fallen würde, mit Prock zu sprechen als mit ihr.

    Er erwachte früh. Um acht hatte er geduscht, sich rasiert und einen dunkelblauen Anzug mit weißem Hemd und dunkelblauer
Krawatte angezogen. Es war ein Tag, an dem man so ernst wie möglich wirken sollte. Beim Hinausgehen warf er einen Blick in den Spiegel. War das das Gesicht, das er verdiente? Für ihn sah es ziemlich ehrlich aus, aber letztlich konnte er das kaum beurteilen. Seine Augen waren braun und offen, mit grünen und schwarzen Einsprengseln; sein Haar, schon seit Jahren silberfarben und kurz geschnitten, suggerierte Seriosität und Verantwortungsbewusstsein. Sein Gesicht hatte genug Makel, um einen irgendwie überzeugenden Eindruck zu erwecken: eine kurze Narbe am Kinn, wo sein Bart nicht wuchs, die Nase nicht ganz gerade. Er war glaubwürdig, zweifellos. Aber es war eine Sache, das Vertrauen von Leuten zu gewinnen, und eine ganz andere, dieses Vertrauen auch zu verdienen.
    Um neun Uhr stand er vor Ninas Haus und klingelte. Der Himmel war immer noch trüb. Während er wartete, schaute er durch die Glastür in die Eingangshalle. Er beschattete seine Augen mit den Händen, um das Licht abzuschirmen. Eine Steintreppe mit Jugendstil-Geländer, der Boden in einem komplizierten Muster gefliest, an den Wänden Marmor bis auf Schulterhöhe. Eine Frauenstimme fragte, wer er war, und ließ ihn ein. Ein alter Lift mit Eisenkäfig trug ihn in den vierten Stock, und als er die Ziehharmonika-Tür öffnete, wurde er schon von Nina erwartet.
    Sie entsprach so gar nicht seinem Bild von ihr. Nach seinen Recherchen war sie Akademikerin, Physikerin, und hielt Vorlesungen an der Humboldt-Universität. Er hatte sie sich klein und irgendwie akademisch vorgestellt – eine Brille vielleicht, mausgraue Haare und praktische Kleidung. Tatsächlich war sie fast so groß wie er und dunkel, mit runden schwarzen Kinderaugen in einem schmalen Gesicht. Sie stand mit leicht
gespreizten Beinen, die Waden kräftig, die Füße ein wenig nach außen gedreht wie eine Tänzerin, und sie trug Schwarz: einen schwarzen Rock, schwarze Strümpfe und Schuhe, eine schwarze Strickjacke über einer grauen Bluse. Webster hatte seit dem Tod seines Großvaters vor zehn Jahren mit niemandem mehr gesprochen, der in Trauer war.
    »Frau Gerstman.« Er bemerkte, dass er eine leichte Verbeugung mit dem Kopf machte.
    »Mr. Webster.«
    »Danke, dass Sie mich empfangen. Ich hoffe, ich störe nicht.«
    Nina sagte nichts, sondern bedeutete ihm mit einer Geste, ihr in die Wohnung zu folgen. Sie gingen einen langen Korridor entlang.

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