Der Löwe der Gerechtigkeit (German Edition)
zurückkehrte, geriet ich mitten in eine Schar amerikanischer Touristen. Der New Yorker Akzent klang anheimelnd, doch als ich ein Gesicht entdeckte, das mir bekannt vorkam, zuckte ich zusammen. War das etwa das Herrchen der Katze Angus, mein ehemaliger Nachbar in der Morton Street? Nein, der nicht, aber wer dann? Der Tourist merkte, dass ich ihn anstarrte, und wandte das Gesicht ab. Das war so unamerikanisch, dass ich erschrak. War mir schon jemand auf der Spur? Auf der Fahrt ins Tal Sant’Antimo blickte ich immer wieder in den Rückspiegel. Dass jemand dicht auffuhr, war in dieser Gegend nicht ungewöhnlich. Ein grauer Peugeot folgte mir bis zur Dorfstraße, die zum Kloster führte. Doch beim Anblick der Kirche von Sant’Antimo vergaß ich alles um mich herum.
Es gibt Orte, die von Frieden erfüllt sind. Meine Heimat, die Insel Hevonpersiinsaari, ist ein solcher Ort. Ruhige Gelassenheit hatte ich gleichermaßen im Bryant Park mitten in Manhattan wie in einem abgelegenen Reisermoor gefunden. Selten gab mir ein einzelnes Gebäude dieses Geborgenheitsgefühl, doch die Kalksteinkirche des Klosters Sant’Antimo schien ein Licht auszustrahlen, das mich magisch anzog. Ich stellte den Wagen ab und warf ein paar Münzen in die Parkuhr. Langsam ging ich auf die Kirche zu. Neben dem Kirchturm stand eine nahezu gleich hohe, uralte Zypresse, im Hintergrund ragte der Monte Amiata auf. Ich betrat den halbdunklen, hohen Innenraum. Von irgendwoher kam gregorianischer Gesang. Als ich mich suchend nach den Sängern umschaute, ging mir auf, dass es sich um eine Tonaufnahme handelte, die aus Lautsprechern schallte. Das versetzte mich in die Wirklichkeit zurück.
Ein weißbärtiger Mann in Mönchskutte war damit beschäftigt, angewelkte Blumen aus der Altarvase zu entfernen. Obwohl es mir wie ein Tabubruch vorkam, in dieser friedvollen Umgebung zu sprechen, ging ich zu ihm, grüßte ihn und fragte, wo ich Bruder Gianni finden könne.
«Non parlo inglese»
, sagte der Mann unfreundlich.
«Bruder Gianni?», versuchte ich es erneut, diesmal auf Italienisch. Der Mann schüttelte barsch den Kopf, nahm die Blumen und ging. Wassertropfen fielen auf den Steinboden.
Ich setzte mich auf eine Bank und schloss die Augen. Der Kirchengesang war lauter geworden, die Töne wurden von der Decke zurückgeworfen und streichelten meine Ohren. David war Christ, er glaubte an Gott. Mir fiel es schwer, an solche Dinge auch nur zu denken, ich ging ihnen nach Möglichkeit aus dem Weg. Wie hätte Gott beispielsweise zulassen können, dass mein Vater meine Mutter tötete, als ich vier Jahre alt war?
Ich hörte die Schritte von zwei Personen hinter mir, dann klopfte mir jemand auf die Schulter. Es war der mürrische Weißbart. Ich sprang auf.
«Bruder Gianni!», knurrte er und zeigte auf den Mann, der hinter ihm stand. Seit ich als Kind im Fernsehen Robin Hood gesehen hatte, stellte ich mir vor, alle Mönche sähen so aus wie Bruder Tuck oder wie der finnische Europarlamentarier Vater Mitro: rundlich, rotwangig und fröhlich. Bruder Gianni passte nicht in dieses Schema. Er war etwa in meinem Alter, so groß wie ich, hager und feinknochig. Die blonden Haare fielen ihm über die Ohren, seine runde Brille glich der von John Lennon. Er nahm meine Hand und sagte auf Finnisch mit estnischem Akzent:
«Guten Tag, Hilja. Ich habe dich schon erwartet.»
4
Dass mir die Überraschung ins Gesicht geschrieben stand, veranlasste Bruder Gianni, hellauf zu lachen und meine Hände fest zu drücken.
«Hat David dir etwa nicht erzählt, dass ich in meinem früheren Leben Jaan Rand war, sein Schulfreund in Tartu?»
«Nein.» Ich versuchte, die Hände fortzuziehen, doch Bruder Gianni hatte einen festen Griff.
«Zum Glück haben wir das Finnische als gemeinsame Geheimsprache. Aber nimm es mir nicht übel, wenn mir das eine oder andere Wort nicht einfällt. Ich habe an der Universität Tartu Finnisch studiert, doch das ist mehr als zehn Jahre her, und seitdem habe ich es kaum gesprochen. David und ich sprechen immer Estnisch miteinander. Das ist noch unbekannter als Finnisch. Die Russen hat es früher ganz schön geärgert, dass sie uns nicht verstehen konnten. Wahrscheinlich ärgert es sie immer noch. Wie geht es David?»
Ich schüttelte den Kopf. Bruder Gianni schien ein Wirrkopf zu sein. Als ich es endlich schaffte, meine Hände aus seinem Griff zu lösen, schmerzten mir die Knochen. An Kraft fehlte es dem Mönch nicht.
«Ich weiß es nicht. Er ist verschwunden.» Auf
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