Der Löwe der Gerechtigkeit (German Edition)
Vermutungen. Vielleicht war es gar nicht der, den ich im Sinn habe. Hoffentlich nicht.»
Die Glocken der Klosterkirche läuteten. Bruder Gianni schrak auf.
«Ist es schon so spät? Ich müsste längst in der Kirche sein. Wenn sie merken, dass ich fehle, fordern sie eine Erklärung … wieder einmal.» Er ließ mich stehen und rannte den Pfad hinunter. Dabei raffte er seine weiße Kutte, um besser über Steine und Pfützen springen zu können, und ich erhaschte einen Blick auf seine graue Jogginghose, bevor er hinter einer Kurve verschwand.
Auch ich trat den Rückweg an. Ich lauschte dem Glockengeläut, das trotz allem beruhigend wirkte. Dieses Läuten hallte schon seit Jahrhunderten durch das Tal. Menschen waren zur Welt gekommen und gestorben, und so würde es weitergehen. Vielleicht vermisste gerade in diesem Moment jemand den barfüßigen Mann oder hatte die Todesnachricht bereits erhalten und entzündete in der Sechs-Uhr-Messe eine Kerze zu seinem Gedenken. Ein wütendes Zischen riss mich aus meinen Gedanken. Bruder Gianni hatte im Vorbeilaufen einen Truthahn aufgescheucht, der seinen Verdruss nun an mir ausließ. Zum Glück hielt ihn ein Zaun zurück.
Ich sah Bruder Gianni auf den Klosterhof stürmen und in letzter Sekunde abbremsen, bevor er auf den Zug der Mönche prallte, der zur Kirche schritt. Als ich weiterging, wurde die Kirchentür von einem Baum verdeckt. Jedenfalls hatte Bruder Gianni es rechtzeitig zur Vesper geschafft. Die Glocken verstummten, dann war Gesang zu hören. Obwohl er die Steinmauern durchdringen musste, klang er merkwürdig laut, doch die lateinischen Worte konnte ich nicht verstehen. War Sangeskunst die Voraussetzung für die Aufnahme in das Kloster Sant’Antimo?
Als ich wieder vor der Kirche stand, war der Vespergottesdienst bereits in vollem Gang. Auf dem Parkplatz standen nur noch mein Punto und ein schäbiger grauer Lieferwagen, das Klostergelände war für den Publikumsverkehr gesperrt. Dennoch blieb ich, um auf Bruder Gianni zu warten, obwohl ich nicht wusste, wie lange die Messe dauern würde. An der Sicherheitsakademie Queens hatten wir die Gottesdienste verschiedener Religionsgemeinschaften besucht, denn als Massenveranstaltungen konnten sie Ziel eines Angriffs werden. Ich erinnerte mich, wie Mike Virtue über die fehlenden Notausgänge einer orthodoxen jüdischen Synagoge in Brooklyn verzweifelt den Kopf geschüttelt hatte. Mike wollte seinen Schülern begreiflich machen, dass kein Ort heilig oder unschuldig genug war, um vor Anschlägen geschützt zu sein. Eine unserer Übungsaufgaben war die Erstellung eines Sicherheitsplans für ein Waisenhaus in der Nachbarschaft gewesen, der plötzlich Realität wurde, als ein Fanatiker, der Aids-Waisen für Abgesandte des Teufels hielt, einen Anschlag auf das Heim verübte. Die Mitarbeiter hatten bei der Sicherheitsakademie angerufen, bevor sie die Polizei alarmierten, und einer der Kursteilnehmer, Rudy aus Kalifornien, war von einer Polizeikugel am Arm verletzt worden. Der Schuss aus der Waffe eines zweiten Polizisten hatte den Fanatiker in die Stirn getroffen. Ich erinnerte mich immer noch an das dunkelhäutige kleine Mädchen, das ich nach dem Zwischenfall zu beruhigen versucht hatte. Die Kleine hatte geweint und mich besabbert, und ich hatte mir eingebildet, dass HIV durch Speichel übertragbar ist. Ich schämte mich bis heute dafür. Danach war ich zweimal zum Test gegangen, beide Male war das Ergebnis HIV -negativ. Aber Mike Virtue hatte recht: Man war nirgends in Sicherheit.
Ich wartete geduldig auf Bruder Gianni. Zu den Messen hatten Außenstehende keinen Zutritt, sie waren den Mönchen des Klosters vorbehalten. Was würde geschehen, wenn ich trotzdem die Kirche betrat? Würde meine Anwesenheit sie entweihen? Die Regeln des katholischen Glaubens waren mir weitgehend unbekannt. Vielleicht wurde die Kirche sicherheitshalber abgeschlossen.
Ich streckte mich auf dem Rasen vor der Kirche aus. Wieder war der Gesang der Mönche zu hören. Als ich die Augen schloss, nahm ich nur noch die Geräuschwelt wahr, die aus weit zurückliegenden Zeiten hätte stammen können: Kirchengesang, das Schwirren der Schwalben, das Rascheln des Grases im Wind. Dann wurde oben im Dorf ein Motorrad angelassen, dessen Knattern den Gesang übertönte.
Das Gras war bereits hoch genug, um die Erde unter mir weich zu polstern. In der vorigen Nacht hatte ich unruhig geschlafen, jetzt versank ich in einer Grenzzone zwischen Wachen und Schlaf, in der ich
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