Der Löwe der Gerechtigkeit (German Edition)
ins Verderben führte. David hatte gelegentlich über das Schicksal gewitzelt, das sein Name ihm prophezeite. Gegen wen trat er diesmal mit seiner Schleuder zum Kampf an? Ich betrachtete eine Ansichtskarte mit dem Gesicht der Statue und sah darin nichts Erotisches, nur die Verzweiflung eines jungen Mannes. Offenbar hatte Michelangelo sein Werk als politische Stellungnahme betrachtet, das hatte David mir jedenfalls erzählt. Eigentlich hatten wir vorgehabt, gemeinsam nach Florenz zu fahren und uns seinen Namensvetter anzusehen.
Als bereits die ersten Passagiere eingelassen wurden, kaufte ich die Karte, obwohl ich mir dabei blöd vorkam. Sie zeigte schließlich nicht den Mann, den ich noch vor einigen Tagen für meinen David gehalten hatte.
Auf dem Wiener Flughafen herrschte Hochbetrieb, unsere Maschine flog quälend lange im Kreis, bevor sie landen durfte, und so musste ich wieder wie gehetzt rennen, damit ich schnell genug durch die Sicherheitskontrolle kam, um den Flug nach Finnland nicht zu verpassen. Schweißüberströmt stellte ich meinen Rucksack auf das Band. Plötzlich fuhr der Beamte am Durchleuchtungsgerät das Band zurück. In meinem Rucksack befanden sich genau dieselben Dinge wie in Florenz, daher hatte ich mir weder wegen des Briefumschlags noch wegen des Kaleidoskops Sorgen gemacht.
«Ist das Ihr Rucksack?», fragte ein schnurrbärtiger Mann, der kaum in sein Uniformhemd passte. Die Jacke hatte er gar nicht erst zugeknöpft.
«Ja.»
«Treten Sie zur Seite und machen Sie ihn auf.»
«Meine Maschine fliegt gleich ab!»
Ich hatte selbst bei der Sicherheitskontrolle gearbeitet und wusste, dass Protestieren nichts half. Es war das Beste, zügig zu handeln. Also trat ich zur Seite und öffnete den Rucksack. Der Mann wühlte darin herum und zog triumphierend das Kaleidoskop heraus.
«Zu gefährlich. Damit kann man jemanden schlagen.»
Ich kannte die Bestimmungen der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation gut genug, um zu wissen, dass der Mann recht hatte. Andererseits handelte es sich um eine Ermessensfrage, denn das Kaleidoskop an sich war keine Waffe. Meinem Eindruck nach hatte ich es mit einem diensteifrigen Wichtigtuer zu tun. Ich überlegte, was mich in einer entsprechenden Situation dazu bewegen würde, nachzugeben.
«Dann schlagen Sie mich damit. Schauen Sie mal, ob ich auch nur einen einzigen blauen Fleck davontrage. Das hier ist ein Geschenk für mein Patenkind. Sie ist neun und sammelt Kaleidoskope.» Ich lächelte wie eine herzige Patentante. «Lassen Sie mich durch, ich habe versprochen, ihr ein Kaleidoskop mitzubringen. Meine Schwester, die Mutter des Mädchens, kratzt mir die Augen aus, wenn ich mein Versprechen nicht halte.»
Ich war eigentlich sicher, dass sich der Mann von meiner Bitte nicht beeindrucken lassen würde, doch er machte eine befreiende Geste: Ich durfte passieren, mitsamt meinem Kaleidoskop.
Wien war ein Fall für sich, überlegte ich, während ich an einer verräucherten Bar vorbeilief. Hier durfte man auf dem Flughafen sogar rauchen. In einem Souvenirshop erstand ich noch ein jodelndes Murmeltier für Frau Voutilainen. Sie hatte mir erzählt, dass sie bei einer Reise nach Österreich großen Gefallen an solch einem Ding gefunden, es dann aber doch nicht gekauft hatte.
«Denk daran, dass der Mensch das, was er unterlässt, heftiger bereut als das, was er tut», hatte sie mir oft gesagt.
Darüber dachte ich auf dem Flug nach. Hatte ich etwas unterlassen, hätte ich in der Toskana bleiben, zur Polizei gehen und über Carlo Dolfini und David sprechen müssen? Ich war doch unschuldig und hatte nichts zu befürchten. Doch so ganz stimmte das nicht. Meine Verbindung zu David war ein ausreichender Grund zur Furcht, da half es nichts, dass ich wichtige Geheimnisse mit der finnischen Staatsführung teilte. Diejenigen, die hinter David her waren, konnten schließlich nicht wissen, was er mir anvertraut hatte.
Leider überhaupt nichts.
Als ich auf dem Flughafen Helsinki-Vantaa ankam, hatte ich das Gefühl, in der Falle zu sitzen. Ich war mit großen Hoffnungen aufgebrochen, und nun stand ich wieder hier. In Finnland war noch alles grau, die Bäume waren kahl, der Frühling wollte nicht kommen, und an den Straßenrändern lagen immer noch schmutzige Schneehaufen, so schäbig wie meine Stimmung. Ich musste mehr als eine halbe Stunde auf meine Koffer warten, es wurde wieder einmal gestreikt.
Am nächsten Tag pries ich mich glücklich, weil ich rechtzeitig aus Italien
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