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Der Löwe der Gerechtigkeit (German Edition)

Der Löwe der Gerechtigkeit (German Edition)

Titel: Der Löwe der Gerechtigkeit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leena Lehtolainen
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der Fahrt zum Kloster hatte ich versucht, mich zu erinnern, was David mir von Bruder Gianni erzählt hatte, doch ich wusste nur noch, dass die beiden alte Freunde waren. Dass David anfangs im Kloster untergeschlüpft war, hatte mich nicht weiter gewundert, denn Klöster hatten seit Urzeiten Verfolgten Schutz geboten. In jüngster Zeit hatte sogar die lutherische Kirche in Finnland Menschen versteckt, denen die Ausweisung drohte.
    «Verschwunden?» Bruder Giannis Augen flammten auf. Der zweite Mönch hatte sich ein Stück zurückgezogen, als er merkte, dass er unser Gespräch nicht verstand.
«Miserere nostri, domine!»
, sangen unsichtbare Mönche im Lautsprecher, und draußen machten ihnen die Schwalben Konkurrenz. «Lass uns ein Stück spazieren gehen. Leider kann ich dich nicht in den Klostergarten führen, aber folge mir auf den Pfad.»
    Bruder Gianni eilte zur Kirchentür und wäre beinahe mit einer Touristengruppe kollidiert, die gerade hereinströmte. Ich folgte ihm langsam, um nicht aufzufallen. Wir gingen über einen breiten Sandweg, der von weißen und violetten Lilien gesäumt war. Gianni schritt so schnell aus, dass ich kaum mithalten konnte. Wir stiegen den Weg hinauf bis auf die Höhe des Kirchendachs, und bald darauf lagen die Klostergebäude hinter uns.
    «Man kann nie vorsichtig genug sein, trotz unserer Geheimsprache», sagte Bruder Gianni ernst und verlangsamte seinen Schritt, damit ich zu ihm aufschließen konnte. Der Weg war zwar breit, aber voller Pfützen und eigentlich nur am Rand begehbar. Wir kamen uns zwangsläufig so nahe, dass sich unsere Ärmel immer wieder streiften. Ich erinnerte mich an Eduardo, der wie ich an dem Kurs der Sicherheitsakademie Queens teilgenommen hatte, und an seine Geschichten über das katholische Internat in New Jersey, das er besucht hatte. Jeglicher Umgang mit dem anderen Geschlecht war verboten gewesen, die restlose Tabuisierung der Sexualität hatte die kleinen Jungen mit Schuldgefühlen überladen. War Bruder Gianni seelisch ausgeglichen? Wieso war er überhaupt Mönch geworden? In Estland waren Katholiken wohl genauso selten wie in Finnland. In Sant’Antimo bekamen die Mönche natürlich täglich verbotene Früchte – Touristinnen – zu Gesicht. Ich selbst hatte mir keine Erfahrung versagt, seit ich während meiner Ausbildung in New York endlich mit meiner Sexualität ins Reine gekommen war. Warum sich vor Sehnsucht verzehren oder Treue verlangen? Einzig und allein David hatte mich zum Umdenken gebracht. Wenn ich mich nach ihm sehnte, wollte ich keinen anderen, obwohl David mir keinen Treueschwur abgenommen hatte.
    «Du sagtest, du hast mich erwartet. Wieso?», fragte ich Bruder Gianni, als wir einige hundert Meter von der Kirche entfernt waren. Am Wegrand standen alte Eichen und Lorbeerbäume.
    «David hatte mir erzählt, dass er Besuch von dir bekommt. Von seiner Herzallerliebsten.»
    Seine Herzallerliebste! Das Wort weckte keine Freude, sondern brachte mich in Wut.
    Wer ließ seine Herzallerliebste ohne Erklärung allein bei einer unbekannten Leiche zurück!
    «Was hat David dir sonst noch erzählt? Vor wem ist er ins Kloster geflohen?»
    Bruder Gianni blieb stehen und legte die rechte Hand auf meinen linken Arm.
    «Ach, Hilja, danach fragt man bei uns nicht. Wenn jemand verfolgt wird, gewährt man ihm Schutz. Obwohl David erst nach Tartu zurückgekehrt ist, nachdem Estland unabhängig geworden war, hatten wir gelernt, dass überall Gefahren lauern können. In jungen Jahren habe ich alles Mögliche angestellt, und dann habe ich etwas wirklich Schlimmes getan … Vielleicht hat David dir davon erzählt. Ich hatte einen guten Grund, ins Kloster zu gehen.» Bruder Gianni senkte den Kopf wie ein reuiger Sünder.
    «David hat über eure gemeinsame Jugend kein Wort verloren!»
    Ich war zu stolz gewesen, um Fragen zu stellen, obwohl ich natürlich zu gern alles über David gewusst hätte. Er hatte mir von seiner Kindheit in Tammisaari und von seinen Segeltörns erzählt, von seinen Eltern und Geschwistern und von der für seine Familie typischen Vorliebe für Mischehen, aber über die Jahre in Tartu hatte er sich weitgehend ausgeschwiegen. Über seine Ausbildung an der Polizeischule in Schweden hatte er mir in Spanien ein wenig berichtet, nachdem er erfahren hatte, dass Hauptmeister Laitio mich über seinen Werdegang informiert hatte. Dabei hatte ich den Eindruck gewonnen, dass David durch irgendeine Sonderregelung in die Polizeischule aufgenommen worden

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