Der Löwe der Gerechtigkeit (German Edition)
Manieren beigebracht, doch meine Machtlosigkeit war mir schmerzhaft bewusst. Mein Onkel versicherte mir, die Geschichte nehme ein gutes Ende, aber ich glaubte ihm nicht. Erst als Teenager las ich das ganze Märchen, da ich aus zahlreichen Zitaten und Anspielungen geschlossen hatte, dass aus der Ente ein Schwan wurde. Dennoch hätte ich weiterhin zu gern die Leiden des Entleins gerächt. Von den eigenen Eltern verstoßen zu werden!
«Woran denkst du?» Trankow war fast lautlos neben mich getreten, er trug nun weiße, von Farbspritzern gesprenkelte Tennisschuhe mit Gummisohlen. Den Anzug hatte er gegen eine hellblaue Jeans und einen knielangen, weiten weißen Kittel getauscht, unter dem er ein weißes T-Shirt trug. Der Mann kleidete sich wirklich seinen wechselnden Rollen entsprechend. Ich verstand ihn gut.
«An Enten und Schwäne.»
«Du warst sicher nie ein hässliches Entlein.»
«Natürlich nicht.»
Trankow kannte bereits eine meiner wunden Stellen: Stahl. Weitere würde ich ihm nicht offenbaren.
«Machen wir uns an die Arbeit? Du hast ja schon eins meiner Bilder gesehen, und ich denke, ich verwende teilweise dasselbe Motiv. Es könnte eine Art Diana werden, die Göttin der Jagd. Die antike Mythologie ist wohl auch in Finnland Schulstoff, oder? Guck mal, was ich für dich entdeckt habe!»
Trankow eilte zu einem mit einer Stoffbahn verhüllten Gebilde in der Mitte des Raums und zog den Stoff fort. Ich konnte nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken, als ich die Büschelohren und das gefleckte Fell sah. Der Luchs war in sitzender Stellung präpariert worden, in stolzer Haltung, seine Schnurrhaare waren dicht. Der Präparator hatte dem Tier ein wachsames und freundliches Aussehen geben wollen, deshalb war die Schnauze geschlossen, und die Zähne blieben verborgen. Nur die Augen passten nicht, sie waren aus Glas und blickten tot.
«Na, was sagst du dazu?», fragte Trankow wie ein kleiner Junge, der seiner Mutter ein Schmuckstück schenkt, das er der Nachbarin gestohlen hat.
«Er ist tot.»
«Wäre dir ein lebendiger lieber? Dann müssen wir nach Russland fahren, dort bekommt man alles. Oder möchtest du einen Pelzmantel, wie ihn Anita Nuutinen hatte? Vielleicht ein Luchsfell, auf dem du dich rekeln kannst? Das hatte ich zuerst im Sinn.»
«Juri, ich mag keine toten Luchse. Wo hast du den her?»
«Ich habe übers Internet einen Präparator gefunden. Der Luchs war irgendwo überfahren worden … in Juva, glaube ich. Ich bin viele hundert Kilometer weit gefahren, um ihn zu holen. Für dich. Für unser gemeinsames Bild. Es wird phantastisch. Ich stelle ihn hier auf den Sockel, sodass du ihm die Hand auf den Rücken legen kannst … So.» Trankow ging in die Knie und legte die Arme um das ausgestopfte Tier. «Ich male euch auf einem Felsen, damit die Stellung natürlich wirkt. Der Thron der Luchsprinzessin inmitten einer majestätisch schroffen Landschaft, ihr seid hoch oben, ihr herrscht über die ganze Welt.»
Laitio hatte mit seiner Warnung recht gehabt. Trankow war nicht nur gefährlich, sondern obendrein verrückt.
«Von diesem Bild träume ich schon lange. Seit ich von deiner Leidenschaft für Luchse erfahren habe. Hier hast du einen Bademantel, den kannst du anziehen, wenn wir Pause machen. Geh jetzt und zieh dich aus. Hier ist es so warm, dass du bestimmt nicht frierst, wenn du nackt bist.»
15
Ich starrte Trankow entgeistert an. Es war nie die Rede davon gewesen, dass ich ihm nackt Modell stehen sollte. Allerdings musste ich mir selbst den Vorwurf machen, nicht nachgefragt zu haben. Stattdessen war ich einfach meinem Instinkt gefolgt, der mir sagte, Trankow habe nützliche Informationen. Ich hatte gehandelt wie ein Luchs, der einem Waldren nachsetzt und nicht merkt, dass er von einem Wilderer aufs Korn genommen wird.
«Steig nicht gleich aus der Hose, Juri», sagte ich auf Finnisch.
«Ich habe gar nicht vor, mich auszuziehen. Das sollst nur du tun. Oder?» Ich hasste Trankows Lächeln und mochte es zugleich. «Guck mal, ich habe hier ein paar Skizzen, nur erste Bleistiftstudien.»
Mit den verschiedenen Richtungen der Malerei kannte ich mich nicht besonders gut aus, aber bei Mary Higgins hatte ich doch ein wenig gelernt. Trankows Entwürfe waren ausgesprochen altbacken und gegenständlich. Sie zeigten eine Frau und einen Luchs auf einem Felsgipfel. Als Modell hätte jede Frau getaugt, mich hätte er dafür nicht unbedingt gebraucht.
«Hast du keine Phantasie? Das kannst du auch ohne Modell
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