Der Löwe der Gerechtigkeit (German Edition)
der protzige Jeep, durch den ich ihn entdeckt hatte.
Ich ließ ihn zuerst aussteigen und mir die Tür öffnen. Er spielte den vollendeten russischen Gentleman. Meine Tasche trug ich jedoch selbst.
«Gehen wir direkt ins Atelier. Ich habe es ganz für mich.»
«Wo hast du eigentlich malen gelernt?», fragte ich, während ich mir die Lage der Gebäude und, soweit ich sie entdecken konnte, die Positionen der Überwachungskameras einprägte.
«In Workuta. Da habe ich meine Kindheit verbracht.» Ich erinnerte mich, dass Trankow zu Frau Voutilainen gesagt hatte, er komme aus Murmansk, und dass Laitio berichtet hatte, er habe zwei Jahre in einer sibirischen Erziehungsanstalt zugebracht.
«Hat Paskewitsch auch in Workuta gewohnt?» Ich wusste, dass meine Frage eine wunde Stelle berührte.
«Er hat nie mit meiner Mutter und mir zusammengelebt. Meine Eltern waren nicht verheiratet.» Trankows Augen blitzten zornig, und ich fragte mich, ob dieser Zorn mir galt, weil ich ihn an seinen unwilligen Vater erinnert hatte, oder eben diesem Vater.
Jeder von uns hat eine schwache Stelle. Ihr solltet sowohl eure eigenen Schwachstellen als auch die eurer Gegner kennen. Nutzt sie mit Bedacht, hatte Mike Virtue uns gelehrt. Trankows Reaktion bestätigte mir, dass Laitios Hinweis auf seine Achillesferse zutraf.
Die Tür zum Atelier ließ sich mit einem normalen Schlüssel öffnen, und Trankow verriegelte sie nicht, nachdem wir eingetreten waren. Die zum Meer gelegene Wand war ganz aus Glas, und auch die beiden schmaleren Wände wurden zur Hälfte von Fenstern eingenommen. Die beiden Türen an der Nordwand führten vermutlich zur Toilette und zum Bad, und in der Ecke befand sich eine Kochnische mit Kühlschrank und Kochplatte, einem Bartisch und zwei hohen Hockern mit Rückenlehne.
«Möchtest du etwas trinken?», fragte Trankow. «Ich meine, bevor wir mit der Arbeit beginnen.»
Da ich ihm nicht über den Weg traute, bat ich um Wasser und ließ es gleich selbst aus dem Hahn in ein Glas laufen. Trankow lächelte spöttisch, als habe er meine Gedanken gelesen.
«Im Kühlschrank gibt es Mineralwasser und Bier. Finnische Flaschen, garantiert ungeöffnet.»
«Mir reicht Leitungswasser.»
Die wenigen Wandflächen des Ateliers waren weiß verputzt. Der Fußboden, soweit ich ihn unter Schutzpapier und diversen Stapeln sehen konnte, war mit weißen Steinplatten belegt. Drei Staffeleien waren mit Leinwand bespannt, zwei davon mit einem Tuch verhängt. Auf der größten Staffelei befand sich eine etwa zwei Meter hohe und hundertzwanzig Zentimeter breite, fertig grundierte Leinwand. Mary Higgins hatte mir in New York beigebracht, Leinwand zu grundieren. Wenn ihr chemisch verstärkter Schöpfungsprozess anlief, malte sie mitunter drei Bilder hintereinander weg und ruhte sich dann tagelang aus, bevor sie ihren Werken den letzten Schliff gab.
Im Zimmer war es warm. Ich zog die Jacke aus, und Trankow beeilte sich, sie mir abzunehmen und an einen kleinen runden Garderobenständer zu hängen. Hatte er vor, in seiner Mafioso-Kleidung zu malen? Der schwarze Anzug war so makellos, dass es mir diebischen Spaß gemacht hätte, ihn mit Lippenstift zu verschmieren, doch von einem Hauch Wimperntusche abgesehen war ich ungeschminkt. Ich erinnerte mich an Paskewitschs Bordellzimmer in Bromarv. Dort hatten massenhaft Schminke, Perücken und Kleider für weibliche Gäste bereitgelegen. Damals hatte ich das Abenteuer unbeschadet überstanden, und das würde ich auch diesmal schaffen.
«Sieh dir ruhig alles an. Ich ziehe mich rasch um.» Trankow verschwand hinter einer der beiden Türen. Ich suchte nach der Überwachungskamera und entdeckte sie zwischen den Oberlichtern. Offenbar erfasste sie den ganzen Raum. Folglich konnte Trankow nachträglich feststellen, was ich in seiner Abwesenheit getan hatte. Also trat ich nur an das Panoramafenster und betrachtete die stille Meeresbucht. Der Schneeregen hatte aufgehört, dafür nieselte es nun, die Tropfen brachten Bewegung in die zuvor spiegelglatte Wasserfläche. Drei Schwäne glitten langsam auf das Ufer zu, eines der Tiere war wohl ein Junges aus dem Vorjahr, denn die Hälfte seines Federkleides war noch grau und wuschelig. Als ich klein war, hatte mir Onkel Jari das Märchen vom hässlichen Entlein vorgelesen, die Lektüre aber abbrechen müssen, weil ich über die Benachteiligung, der das arme Entenjunge ausgesetzt war, lauthals weinte. Am liebsten wäre ich zu den anderen Enten gerannt und hätte ihnen
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